Ukraine: Gerichtshof ordnet Freilassung des Kriegsdienstverweigerers Alekseenko an
Am 25. Mai 2023 hob der Oberste Gerichtshof der Ukraine die Verurteilung des Kriegsdienstverweigerers und Gewissensgefangenen Vitaly Alekseenko auf und ordnete seine sofortige Freilassung aus dem Gefängnis sowie die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz an. Der EBCO-Delegierte Derek Brett aus der Schweiz hatte als internationaler Beobachter an der Gerichtsverhandlung teilgenommen.
Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), War Resisters’ International (WRI) und Connection e.V. (Deutschland) begrüßen das Urteil des Obersten Gerichtshofs und die Freilassung des Kriegsdienstverweigerers Vitaly Alekseenko. Sie fordern die Einstellung des gegen ihn weiter laufenden Verfahrens.
"Dieses Ergebnis ist weitaus besser, als ich jemals erwartet hatte, als ich mich auf den Weg nach Kiew machte", erklärte Derek Brett. "Es könnte eine bahnbrechende Entscheidung sein, aber wir werden es erst wissen, wenn wir die Begründung für das Urteil sehen. In der Zwischenzeit sollten wir nicht vergessen, dass Vitaly Alekseenko noch nicht ganz aus dem Schneider ist."
Yurii Sheliazhenko von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung fügte hinzu: "Wir sind besorgt, dass ein Wiederaufnahmeverfahren angeordnet wurde, statt einen Freispruch auszusprechen. Es liegt noch viel Arbeit vor uns, um das Recht, das Töten zu verweigern, für all diejenigen durchzusetzen, deren Recht auf Kriegsdienstverweigerung verletzt wurde; aber heute ist die Freiheit für Vitaly Alekseenko nach einer Reihe von Aufrufen der internationalen Zivilgesellschaft und internationaler Friedensorganisationen endlich gesichert. Dies ist der Verdienst von Tausenden von Menschen, einige von ihnen sehr weit von der Ukraine entfernt, die sich sorgten, beteten, aktiv wurden und ihre Unterstützung und Solidarität auf verschiedene Weise zum Ausdruck brachten. Ich danke Ihnen allen, das ist ein gemeinsamer Grund zum Feiern."
Ein Amicus-Curiae-Schriftsatz zur Unterstützung von Vitaly Alekseenko wurde vor der Anhörung gemeinsam eingereicht von Derek Brett, EBCO-Delegierter und Chefredakteur des EBCO-Jahresberichts über Kriegsdienstverweigerung in Europa, Foivos Iatrellis, ehrenamtlicher Rechtsberater des griechischen Staates sowie Mitglied von Amnesty International - Griechenland und der griechischen Nationalen Kommission für Menschenrechte, Nicola Canestrini, Professor und Rechtsanwalt (Italien), und Yurii Sheliazhenko, Doktor der Rechtswissenschaften sowie Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung.
Vitaly Alekseenko, ein protestantischer Christ und Kriegsdienstverweigerer, wurde am 23. Februar 2023 in der Strafkolonie Kolomyiska Nr. 41 inhaftiert, nachdem er zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, weil er die Einberufung zum Militär aus religiösen Gewissensgründen verweigert hatte. Am 18. Februar 2023 wurde eine Kassationsbeschwerde beim Obersten Gerichtshof eingereicht, doch der Oberste Gerichtshof lehnte es ab, seine Strafe wegen der Dauer des Verfahrens auszusetzen und setzte eine Anhörung für den 25. Mai 2023 an. Hier ist seine erste Erklärung nach seiner Entlassung am 25. Mai:
"Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte ich ‚Halleluja!‘ schreien. Schließlich ist der Herrgott da und lässt seine Kinder nicht im Stich. Am Vorabend meiner Entlassung wurde ich nach Iwano-Frankiwsk eskortiert, aber sie hatten keine Zeit, mich zum Gericht in Kiew zu bringen. Nach meiner Freilassung gaben sie mir meine Sachen zurück. Ich hatte kein Geld, also musste ich zu Fuß zu meiner Unterkunft gehen. Auf dem Weg dorthin half mir meine Bekannte, die Rentnerin Natalya, und ich bin ihr dankbar für ihre Fürsorge, ihre Pakete und ihre Besuche im Gefängnis. Sie ist ebenfalls eine Binnenvertriebene, nur komme ich aus Sloviansk und sie aus Druschkiwka. Während ich meine Tasche trug, wurde ich müde. Außerdem gab es einen Luftangriff. Wegen des Luftangriffs konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen, aber nach dem Alarm gelang es mir, zwei Stunden lang zu schlafen. Dann habe ich einen Strafvollzugsbeamten aufgesucht, der mir meinen Pass und mein Mobiltelefon zurückgegeben hat. Heute und am Wochenende werde ich mich ausruhen und beten, und ab Montag werde ich mich nach einem Job umsehen. Ich möchte auch zu Gerichtsverhandlungen in Fällen anderer Kriegsdienstverweigerer gehen und sie unterstützen. Insbesondere möchte ich an der Berufungsverhandlung im Fall von Mykhailo Yavorsky teilnehmen. Und ganz allgemein möchte ich den Verweigerern helfen, und wenn jemand inhaftiert ist, möchte ich ihn besuchen und ihm Geschenke bringen. Da der Oberste Gerichtshof die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet hat, werde ich weiter einen Freispruch einfordern.
Vielen Dank an alle, die mich unterstützt haben. Ich bin all jenen dankbar, die Briefe an das Gericht geschrieben und mir Postkarten geschickt haben. Ich danke den Journalisten, insbesondere Felix Corley vom Forum 18 News Service in Norwegen, die die Situation nicht ignoriert haben, dass ein Mann ins Gefängnis gesteckt wurde, weil er sich weigerte zu töten. Ich danke auch den Mitgliedern des Europäischen Parlaments Dietmar Köster, Udo Bullmann, Clare Daly und Mick Wallace, sowie dem EBCO-Vizepräsidenten Sam Biesemans und allen anderen Menschenrechtsverteidigern, die meine Freilassung und die Reform der ukrainischen Gesetzgebung gefordert haben, damit das Recht eines jeden Menschen, das Töten zu verweigern, geschützt wird, damit Menschen nicht im Gefängnis sitzen, weil sie dem Gebot Gottes ‚Du sollst nicht töten‘ treu sind. Ich möchte dem Anwalt der freien Rechtshilfe Mykhailo Oleynyash für seine professionelle Verteidigung danken, insbesondere für seine Rede vor dem Obersten Gerichtshof und seine Hartnäckigkeit, als er das Gericht aufforderte, den Amicus-Curiae-Schriftsatz internationaler Experten bezüglich des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung zu berücksichtigen. Ich danke den Verfassern dieses Amicus-Curiae-Schriftsatzes, Herrn Derek Brett aus der Schweiz, Herrn Foivos Iatrellis aus Griechenland, Professor Nicola Canestrini aus Italien und vor allem Yurii Sheliazhenko von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, der mir die ganze Zeit geholfen hat, meine Rechte zu verteidigen. Ein besonderer Dank geht an den EBCO-Delegierten Derek Brett, der als internationaler Beobachter nach Kiew kam, um der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Ich weiß immer noch nicht, was in dem Urteil des Obersten Gerichtshofs steht, aber ich danke den ehrenwerten Richtern dafür, dass sie mich wenigstens auf freien Fuß gesetzt haben.
Ich bin auch der EBCO-Präsidentin Alexia Tsouni dankbar, dass sie mich im Gefängnis besucht hat. Ich habe die von ihr mitgebrachten Süßigkeiten zu Ostern an die Jungen verteilt. Im Gefängnis sitzen viele Jungen zwischen 18 und 30 Jahren. Einige von ihnen werden wegen ihrer politischen Haltung inhaftiert, zum Beispiel wegen eines Beitrags in sozialen Netzwerken. Es ist seltener, dass jemand wie ich wegen seines christlichen Glaubens inhaftiert wird. Es gibt zwar einen Mann, der offenbar wegen eines Konflikts mit einem Priester inhaftiert wurde, ich kenne die Einzelheiten nicht, aber das ist etwas ganz anderes als die Weigerung, Menschen zu töten. Die Menschen sollten in Frieden leben, sich nicht streiten und kein Blut vergießen. Ich würde gerne etwas tun, damit der Krieg früher endet und es einen gerechten Frieden für alle gibt, damit niemand stirbt, leidet, im Gefängnis sitzt oder schlaflose Nächte bei Luftangriffen verbringt wegen dieses grausamen und sinnlosen Krieges gegen alle Gebote Gottes. Aber ich weiß noch nicht, wie ich das machen soll. Ich weiß nur, dass es mehr Russen geben muss, die sich weigern, Ukrainer zu töten, die sich weigern, den Krieg zu unterstützen und sich in irgendeiner Weise am Krieg zu beteiligen. Und die brauchen wir auch auf unserer Seite."
Derek Brett nahm auch an der Gerichtsanhörung zum Fall von Andrii Vyshnevetsky am 22. Mai in Kiew teil. Vyshnevetsky, ein christlicher Kriegsdienstverweigerer und Mitglied der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, wird gegen das Gebot seines eigenen Gewissens in einer Fronteinheit der Streitkräfte der Ukraine festgehalten. Er reichte Klage gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur Einführung eines Verfahrens zur Entlassung aus dem Militärdienst auf Grundlage der Kriegsdienstverweigerung ein. Der Oberste Gerichtshof erlaubte der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, dem Verfahren auf der Seite des Klägers als dritte Partei beizutreten, die keine unabhängigen Ansprüche in Bezug auf den Streitgegenstand erhebt. Die nächste Gerichtssitzung im Fall Vyshnevetsky ist für den 26. Juni 2023 angesetzt.
Die Organisationen fordern die Ukraine auf, die Aussetzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung unverzüglich rückgängig zu machen, die Anklage gegen Vitaly Alekseenko fallen zu lassen und Andrii Vyshnevetsky ehrenhaft zu entlassen sowie alle Kriegsdienstverweigerer, einschließlich der christlichen Pazifisten Mykhailo Yavorsky und Hennadii Tomniuk, freizusprechen. Sie fordern die Ukraine außerdem auf, das Verbot für alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, das Land zu verlassen, sowie andere Praktiken zur Durchsetzung der Wehrpflicht aufzuheben, die mit den Menschenrechtsverpflichtungen der Ukraine unvereinbar sind, darunter auch die willkürliche Inhaftierung von Wehrpflichtigen und die Pflicht zur militärischen Registrierung als Voraussetzung für jegliche zivile Entscheidungen zu Angelegenheiten wie Bildung, Beschäftigung, Heirat, Sozialversicherung, Registrierung des Wohnsitzes usw.
Die Organisationen fordern Russland auf, unverzüglich und bedingungslos alle Soldaten und mobilisierten Zivilisten freizulassen, die sich weigern, am Krieg teilzunehmen, und die zu Hunderten illegal in einer Reihe von Zentren in den von Russland kontrollierten Gebieten der Ukraine festgehalten werden. Berichten zufolge setzen die russischen Behörden Drohungen, psychologischen Missbrauch und Folter ein, um die Inhaftierten zur Rückkehr an die Front zu zwingen.
Die Organisationen fordern sowohl Russland als auch die Ukraine auf, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu schützen, auch in Kriegszeiten, und dabei die europäischen und internationalen Standards, unter anderem die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, vollständig einzuhalten. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist Bestandteil des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) garantiert ist und das auch in Zeiten des öffentlichen Notstands nicht angetastet werden darf, wie der Artikel 4 Absatz 2 des ICCPR besagt.
Die Organisationen verurteilen die russische Invasion in der Ukraine aufs Schärfste, rufen alle Soldat*innen auf, nicht an den Kämpfen teilzunehmen und rufen alle Rekruten auf, den Militärdienst zu verweigern. Sie verurteilen alle Fälle von Zwangsrekrutierung und gewaltsamer Rekrutierung in den Armeen beider Seiten sowie alle Fälle von Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und gewaltlosen Kriegsgegnern. Sie fordern die EU auf, sich für den Frieden einzusetzen, in Diplomatie und Verhandlungen zu investieren, den Schutz der Menschenrechte einzufordern und den Kriegsgegner*innen Asyl und Visa zu gewähren.