Studientag fragt nach Perspektiven für Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt

Der russische Überfall auf die Ukraine hat gravierende Auswirkungen auf die europäische Sicherheits- und Friedensordnung. Wie ist vor diesem Hintergrund Frieden in Europa künftig gestaltbar, wie kann es zu Frieden kommen und wie ist dieser künftig möglich? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Studientag der Evangelischen Friedensarbeit im Raum der EKD gemeinsam mit der Evangelischen Akademie in Thüringen im Augustinerkloster in Erfurt unter dem Motto „Zeitensprung“.

„Dieser Angriffskrieg macht fassungslos und wütend“, bekannte Dr. Martina Fischer, die Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung bei Brot für die Welt. Man stehe vor den Ruinen der europäischen Friedensordnung. „Das sich 1991 eröffnete Fenster hat sich geschlossen, ohne dass diese Chance genutzt wurde“, so Martina Fischer. Daran hätte nicht nur Russland eine Schuld, „auch der Westen hat das nicht unbedingt gewollt, auch wenn dies die russische Verantwortung für die jetzige Situation nicht relativieren würde“, betonte sie.

Doch damit solle man sich nicht abfinden, unterstrich Martina Fischer in Erfurt. „Wir brauchen eine Neuorientierung des Konzepts einer kooperativen Sicherheit. Das bedeutet, den Rüstungswettlauf europa- und weltweit zu bremsen. Und die Erkenntnis, dass wir die großen Krisen der Welt wie den Klimaschutz oder die Pandemie nur in Kooperation lösen können“, war sie überzeugt. Dabei sei der Vorrang der Krisenprävention und Friedensförderung sehr wichtig, ebenso eine umfassende „Nachhaltigkeits-Außenpolitik“. „Und wir müssen die Zivilgesellschaft stärken, vor Ort wie global. Denn diese muss diese Friedensprozesse tragen“, skizzierte Martina Fischer mögliche Perspektiven für Sicherheit und Frieden in Europa.

Wie ein Frieden zwischen Russland und der Ukraine durch Verhandlungen aussehen könnte, umriss Dr. Wolfgang Zellner vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Denn dass diese irgendwann mal kommen werden, davon war der ehemalige Leiter des Zentrums für OSZE-Studien überzeugt: „Keine der beiden Seiten wird den Krieg final gewinnen können.“

Am Ende werde etwas zwischen einem brüchigen Waffenstillstand und einem Friedensabkommen herauskommen, vermutet er. „Das wird geschehen, wenn die Situation so ist, dass aus Kämpfen keine Vorteile mehr zu erwarten sind, was aber wohl vor 2024 unwahrscheinlich ist“, so Zellner. Dabei war für ihn klar, dass dies nicht leicht werde. „Die Kriegsziele schließen sich gegenseitig aus, beide Seiten erhoffen sich durch die Kämpfe noch Vorteile und beide Seiten sind zutiefst skeptisch, was Gewinne aus einem Abkommen angehen“, machte der Wissenschaftler deutlich. Auch sehe er derzeit keinen potenziellen Mediator für einen solchen Verhandlungsprozess.

Dennoch wagte er ein Gedankenexperiment für mögliche Verhandlungen. „Zunächst geht es um militärische Fragen. Dazu gehört ein Waffenstillstand mit klaren Grenzlinien und einer robusten Organisation, die das überwacht“, macht Wolfgang Zellner deutlich. Ein NATO-Beitritt der Ukraine sei wenig wahrscheinlich, allerdings brauche es klare bi- und multilaterale Zusicherungen für die Ukraine wie auch deutliche Rüstungskontrollen. Ein zweiter Teil betreffe wirtschaftliche Fragen wie den Wiederaufbau der Ukraine und mögliche russische Reparationszahlungen, aber auch das Ende von Sanktionen gegen Russland. „Und schließlich wird es um territoriale Themen gehen“, erläuterte Wolfgang Zellner.

Den deutschen Einfluss auf diese Entwicklung schätzte Zellner dabei eher gering ein. Dennoch erarbeitet die Bundesregierung aktuell eine nationale Sicherheitsstrategie. „Eine solche Strategie muss Orientierung bieten und Prioritäten setzen“, unterstrich Professor Dr. Tobias Debiel, der stellvertretende Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen in Erfurt. Wichtig sei, dabei nicht nur militärische Prioritäten zu benennen, sondern auch die Notwendigkeit der Konfliktprävention und der Zivilgesellschaft, fügte der Mitherausgeber des Friedensgutachtens hinzu.

„Bei der Sicherheitsstrategie geht es nicht darum, wie der Frieden in der Welt geschaffen werden kann, sondern, wie wir Sicherheit in Deutschland gewährleisten“, machte allerdings Dr. Christoph Schwegmann, der stellvertretende Leiter des Arbeitsstabs Nationale Sicherheitsstrategie im Auswärtigen Amt, deutlich. Eine Einschätzung, die Widerspruch bei der früheren Präsidentin von Brot für die Welt, Professorin Cornelia Füllkrug-Weitzel, auslöste: „Wir können über Sicherheitsfragen nicht national verkürzt reden.“ Eine solche Strategie dürfe daher nicht nur darauf setzen, dass es Deutschland gut gehe, und Sicherheit dürfe nicht nur militärisch und national gedacht werden, betonte sie.

Cornelia Füllkrug-Weitzel warnte davor, die Probleme des globalen Südens aus dem Blick zu verlieren. „Gerade der Krieg in der Ukraine verschärft diese Krisen“, mahnte sie nachdrücklich. Und auch Tobias Debiel hielt einen verengten Blick auf militärische Sicherheit für zu kurz gegriffen. „Für die Wehrhaftigkeit wird gerade viel getan, ein großes Problem sind die fehlenden Friedensperspektiven“, meinte er. Dass Fragen der Krisenprävention in der kommenden Sicherheitsstrategie keine Rolle spielen würden, dem widersprach allerdings Christoph Schwegmann. „Eine wertegeleitete Außenpolitik hat für die Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Und wo Deutschland helfen kann, wird es das weiter auch tun“, machte er deutlich.

Nicht zu eng auf militärische Sicherheit blicken, davor warnte allerdings auch Landesbischof Friedrich Kramer, der EKD-Friedensbeauftragte. „Für Christen ist klar: Es gibt keine von Menschen gemachte Sicherheit“, unterstrich er. Christen seien Teil einer Weltgemeinschaft. „Wir können einander wahrnehmen, miteinander reden und so auch Mittler sein“, war Kramer überzeugt. Und dafür brauche es auch Räume, um über solche Fragen offen reden und diskutieren zu können. „Solchen Raum kann die Kirche bieten“, war der EKD-Friedensbeauftragte dabei überzeugt.

Immer wieder wurde in Erfurt betont, wie wichtig die Zivilgesellschaft für eine künftige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung ist. Wie dies aussehen kann, zeigten Beispiele in Erfurt. „Wir wollten dazu beitragen, die Spannungen im Osten der Ukraine abzubauen und den Menschen zeigen, wie sie die Region entwickeln können“, berichtete Tetiana Lopashchuk, die Leiterin des Kiewer Büros der „Kyjiewer Gespräche“. Der russische Überfall veränderte die Situation, doch: „Es hat sich gezeigt, dass unsere Arbeit nicht umsonst war. Die entstandenen Netzwerke waren die ersten, die Menschen halfen. Doch wir waren leider auch das erste Ziel der russischen Armee“, machte sie deutlich.

Ähnliche Erfahrungen machte Dana Jirous, eine von vier Koordinatorinnen von Women´s Initiatives for Peace in Donbas/s. „Wir hatten den Mut, Frauen aus verschiedenen Teilen der Ukraine, einschießlich der nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete von Donetsk und Lubansk, aus der Russischen Föderation und anderen europäischen Ländern dazu einzuladen, miteinander zu reden und einander zuzuhören. Und in diesen Dialogen, in denen über alle Fragen gesprochen werden konnte, hat sich die Gesellschaft verändert, im Kleinen wie im Großen“, erzählt sie.

Von seinen Erfahrungen im Krieg auf dem Balkan berichtete Otto Raffai von RAND in Kroatien. „Für uns war klar, dass wir keine Menschen töten wollten. Darum begannen wir mit der Ausbildung für gewaltfreies Handeln und haben so schon in Kriegszeiten mit Friedensarbeit begonnen“, erläuterte der kroatische Theologe und Friedensaktivist. Dazu gehörten Begegnungen, Gespräche, aber auch das Erlernen von konkretem gewaltfreiem Handeln.

„Friedensarbeit ist nie umsonst, sie trägt auch in Kriegszeiten“, betonte Christoph Bongard vom forumZFD und der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Dies zeige aktuell die Situation in der Ukraine, aber auch die Erfahrung aus vielen anderen Regionen. Und die Friedensarbeit nach einem Krieg biete viele Möglichkeiten, gerade für die Zivilgesellschaft. „Doch das braucht einen langen Atem. Aber die Friedensarbeit verändert die Menschen“, so Bongard.

Allerdings warnte Tetiana Lopashchuk davor, während des Krieges schon Versöhnung zu fordern. „Das ist nicht einfach, wenn der Aggressor einen vernichten will“, mahnte sie in Erfurt an und wies die Studientagsteilnehmer darauf hin, zu erkennen, was Menschen drohe, die unter einer Besatzung leben und deren Leben durch ihre Arbeit in Gefahr sei. „Da ist das dann nicht leicht für Friedensarbeit“, machte sie eindrücklich deutlich. Und Dana Jirous war überzeugt: „Wir bewegen uns mit unserer Arbeit in einem Spannungsfeld und das ist auch ein Dilemma für eine zivilgesellschaftliche Arbeit.“

„Frieden, zwischen Menschen, zwischen Staaten, muss oft im Verborgenen beginnen, in geschlossenen Räumen, wo dann aufeinander geachtet und Schmerzen zugemutet werden können, damit Heilungsprozesse einsetzen können“, so der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer. Die Friedensarbeit zeige hier große Kraft, wisse aber auch gleichzeitig, dass Frieden letztlich von Gott komme, machte der Landesbischof deutlich.

Die Zivilgesellschaft stark machen, sie wahrnehmen und den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellen, die Stimme der Friedensarbeit hörbar machen, die christliche Friedenshoffnung mit anderen teilen und globale Perspektiven zu den zentralen Perspektiven machen, das unterstrich der Studientag in Erfurt. Der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer machte mit Blick auf die Debatten in Erfurt deutlich: „Gerade jetzt braucht es die Evangelische Friedensarbeit mit ihren vielen Akteuren und Zugangsweisen.“