Russische Organisationen rufen zu Schutz und Asyl für alle Verweigerer auf
Ein Jahr nach der Teilmobilmachung legt heute Connection e.V. aktuelle Zahlen zur Flucht militärdienstpflichtiger Männer aus Russland vor. Auf Grundlage einer Studie des unabhängigen Netzwerks für Analyse und Politik RE: Russia kommt Connection e.V. zu dem Schluss, dass mindestens 250.000 militärdienstpflichtige Männer aus Russland seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine das Land verlassen haben und Schutz in anderen Ländern suchen. Connection e.V. und die Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden fordern, dass endlich Schritte unternommen werden, um diese Personen zu schützen.
„Der größte Teil von ihnen ging nach Kasachstan, Armenien, Türkei oder Serbien“, so heute Rudi Friedrich von Connection e.V.. „In der Europäischen Union haben insgesamt wohl nur knapp 10.000 um Asyl nachgesucht. Und sie müssen in vielen Fällen erleben, dass ihr Asylantrag abgelehnt wird. Das ist ein unhaltbarer Zustand.“
Das Bundesinnenministerium in Deutschland hat sich zwar im Mai 2022 bereit erklärt, russischen Deserteuren Flüchtlingsschutz zu gewähren, weil „davon auszugehen sei, dass eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet“ werde. Zudem sei eine hohe Bestrafung zu erwarten, was sich inzwischen aufgrund der Bericht bestätigt. Mediazona berichtete am 19. Juli 2023, dass seit Anfang 2023 jede Woche einhundert Verfahren eröffnet werden würden. Bekannt geworden sind Verurteilungen zu bis zu 13 Jahren Haft wegen Nichtbefolgung der Einberufung (FAZ, 15.9.2023).
Viele Politiker*innen hatten sich in den vergangenen Monaten dafür ausgesprochen, Verweigerern aus Russland Schutz zu geben, so auch Bundeskanzler Scholz oder Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Der Großteil der russischen Verweigerer wird jedoch in den Asylverfahren abgelehnt. So ergeht es vor allem denen, die rechtzeitig vor einer möglichen Rekrutierung geflohen sind. In einem uns kürzlich zugegangenen Schreiben vom 6. September 2023 heißt es vom BAMF dazu beispielsweise: „eine Einziehung zum Militärdienst ist (…) nicht beachtlich wahrscheinlich. (…) Zwar wird vorgetragen, dass der Kläger Fahrer der Gruppe 2 und damit von besonderem Interesse für das russische Militär ist. Der Beklagten (dem BAMF) ist derzeit jedoch nicht bekannt, dass diese Behauptung zutrifft.“
Dazu erklärt Wolfgang Max Burggraf von der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK). „Hunderttausende haben sich entschieden, nicht am Krieg Russlands teilzunehmen. Sie wollten sich nicht der Gefahr aussetzen, direkt an die Front gebracht zu werden. Sie wollen nicht kämpfen und nicht töten. Der größte Teil der militärdienstpflichtigen Asylantragsteller aus Russland hat sich deshalb schon vorzeitig einer möglichen Rekrutierung entzogen. Das wird ihnen nun im Asylverfahren zum Verhängnis.“
Das ist auch der Grund, warum es bislang nur sehr wenige Anerkennungen von russischen Asylantragsteller*innen gibt. Das BAMF gab vor einem Monat gegenüber der Deutschen Welle an, dass seit Beginn des Ukraine-Krieges in Deutschland bei insgesamt 1.418 Entscheidungen nur 83 russischen Flüchtlingen im wehrpflichtigen Alter Schutz gewährt wurde. 138 Anträge wurden abgelehnt. Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum 24. Februar 2022 bis 31. Juli 2023.
„Eine Ablehnung bedeutet immer die Gefahr, dass die Betroffenen am Ende abgeschoben werden“, erklärt Rudi Friedrich. „Dabei haben sich diese Flüchtlinge einem völkerrechtswidrigen Krieg entzogen und müssen bei einer zwangsweisen Rückkehr sehr wohl damit rechnen, unverzüglich rekrutiert zu werden. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weiß, dass die Einberufungspraxis in Russland geändert worden ist, tut aber so, als ob nicht wirklich eine Rekrutierung drohen würde. Am Ende steht, dass die Verweigerer dem Militär für den Kriegseinsatz ausgeliefert werden.“
Die Forderung auf Schutz und Asyl für alle Kriegsdienstverweigerer, Militärdienstentzieher und Deserteure aus Russland wird unterstützt durch einen Appell russischer Organisationen, der sich explizit auf den Jahrestag der Teilmobilmachung bezieht. Mit dem Appell fordern 90 Organisationen aus Russland und vielen anderen Ländern die Europäische Union und deren Mitgliedstaaten dazu auf:
- Ein einheitliches Konzept zum Schutz russischer Staatsbürger zu entwickeln, die wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung oder wegen ihrer Weigerung, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen, von Verfolgung bedroht sind;
- Visaregelungen auszuarbeiten, die es dieser Personengruppe erlaubt, in die Europäische Union einzureisen;
- Unterstützung der Organisationen, die die Flucht von Militärdienstpflichtigen aus Russland begleiten und sich für deren Schutz und Asyl einsetzen;
- Unterstützung von Drittländern bei der Aufnahme dieser Personengruppe.
Connection e.V. und die Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden unterstützen diesen Aufruf und fordern, dass endlich Schritte unternommen werden, um diese Personen zu schützen. Wolfgang Max Burgraf betont: „Es reicht nicht, wenn Politiker*innen auf das Asylverfahren verweisen, wenn wir zugleich erleben, dass genau dieses Asylverfahren dazu führt, dass die meisten der Verweigerer abgelehnt werden. Sie brauchen dringend Unterstützung und ein Perspektive für ihren mutigen Schritt.“
Connection e.V. und die Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) setzen sich gemeinsam mit mehr als 100 Organisationen im Rahmen der #ObjectWarCampaign auf europäischer Ebene für Schutz und Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Russland, Belarus und der Ukraine ein.