Friedensbewegung und Politik in Deutschland

Bei dem Symposium „Friedensbewegung und Politik in Deutschland aus zeithistorischer Sicht – Erfolge, Erfahrungen, Probleme“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg in Potsdam am 8. November 2013 sind Defizite in der gegenseitigen Wahrnehmung des jeweils anderen friedensbewegtem Engagements in der alten Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bewusst geworden. Frieden war ein zentrales Thema deutscher Politik in Ost und West mit jeweils eigenen deutlichen Profilen – und zwar sowohl auf der staatlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Welches sind die Lehren daraus für das vereinte Deutschland? Diese Frage ist in der Aufarbeitung des Ost-West-Konfliktes in Deutschland und in seiner Folge von Trennung, Leid und Tod bisher zu kurz gekommen. Der folgende historische Beitrag versucht eine Antwort.

  1. Welche maßgeblichen politischen Koordinaten der beiden deutschen Staaten bestimmten ihre Ansätze und Selbstverständnisse?
  2. Welches waren die wichtigen Stationen der Friedensbewegung in der BRD?
  3. Welche Rolle spielte die Friedensbewegung für den Fall der Mauer 1989 und das Ende der Blockkonfrontation?
  4. Wie haben sich die friedensethischen Positionen in den deutschen evangelischen Kirchen und zu kirchlichen Standpunkten in der Friedensfrage im Verhältnis BRD – DDR entwickelt?
  5. Welche Lehren sind für Friedensethik und Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland aus den Ansätzen und Selbstverständnissen in der alten Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik zu ziehen? 

1. Welche maßgeblichen politischen Koordinaten der beiden deutschen Staaten bestimmten ihre Ansätze und ihre Selbstverständnisse?

Beide deutsche Staaten sind getrennt aufgewachsene Kinder gegensätzlicher weltanschaulicher, politischer und militärischer (Bündnis-)Systeme im Kalten Krieg zwischen Ost und West gewesen. Sie verdanken sich im historischen Rückblick auch der von den deutschen Nazis ausgelösten Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, der mit dem Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 endete. Die Dimensionen dieses zweiten großen Krieges des 20. Jahrhunderts sind 69 Jahre nach seinem Ende nicht vergessen: Weltweit millionenfacher Tod (meistens Zivilisten) an vielen Fronten, Sterben in Bombennächten, Völkermord an den europäischen Juden und an Sinti und Roma. Zu beklagen sind aus gleichem Anlass die Opfer der „Euthanasie“, die ermordeten Homosexuellen, Vertreter der politischen Opposition und religiöser Gruppen wie z.B. der Zeugen Jehovas. Zurück blieb eine zerstörte Staatenwelt, und was am stärksten belastet: Fast unüberwindliche Feindbilder, die „Entfeindung“ fordern, sowie der Zusammenbruch von friedensgeneigter Ethik und politischer Moral. Die pazifistische Parole aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg „Nie wieder Krieg!“ wandelte sich zwar in der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Parole „Nie wieder Militär!“.  Im Grundgesetz des nun gemeinsamen Staates Bundesrepublik Deutschland (Artikel 4 Absatz 3) stehen deshalb das schon bis 1991 überwältigend in Anspruch genommene Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung[1], außerdem die bitter bezahlte Lehre aus dem deutschen Angriffskrieg 1939 bis 1945: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig“. Sie stehen unter Strafe (Artikel 26 Absatz 1 Grundgesetz). Auch die Forderung „Nie wieder Auschwitz!“ bestimmte Jahrzehnte lang die breite öffentliche Meinung und damit die Ablehnung von Rassismus. Die Gründung der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) mit ihrer Charta vom 26. Oktober 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 bedeuteten einen weltpolitischen Neuanfang. Der Ost-West-Konflikt und der Nord-Süd-Konflikt veränderten das Weltbild sehr schnell, insbesondere an der Schnittstelle, dem Eisernen Vorhang, der Deutschland und Europa teilte.

Es ist sinnvoll, sich der leitenden politischen Koordinaten der beiden deutschen Staaten zu vergewissern, weil diese auch den Rahmen für ihre Politik setzten. Die BRD ist nach den Kriterien der Demokratietheorie eine liberale, repräsentative Demokratie mit einem System der Gewaltentrennung und einem Katalog von justiziablen Grundrechten im Grundgesetz vom 23. Mai 1949. Sie ist als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20 Absatz 1) verfasst. Das Grundgesetz garantiert das Eigentum und das Erbrecht mit der Einschränkung: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Artikel 14 Absätze 1 und 2). Artikel 15 des Grundgesetzes sieht die „Vergesellschaftung“ von „Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln“ in „Gemeineigentum oder andere Formen von Gemeinwirtschaft“ nur auf der Basis eines Gesetzes zur Entschädigung vor. Die BRD trat 1955 der NATO bei. Die Friedensbewegung in diesem deutschen Teilstaat war zivilgesellschaftlich als eine neue „soziale Bewegung“, also strikt nicht-staatlich und pluralistisch, verfasst.

Der Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik ist der 7. Oktober 1949. Ihre erste Verfassung wurde am 6. April 1968 in eine „sozialistische“ überführt. Die Präambel sprach sich gegen die „westdeutschen Monopolkapitalisten“ und den „Imperialismus unter Führung der USA“ aus. Artikel 1 Absatz 1 lautete: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklicht.“ Die zweite Verfassung von 1968 strebte die „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten“ an. Artikel 1 Absatz 1 der dritten Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974 lautete dagegen nur noch: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Die DDR trat 1956 der Warschauer Vertragsorganisation, dem im Westen so bezeichneten Warschauer Pakt, bei. Die offizielle Friedensbewegung der DDR war der „Friedensrat der DDR“ (1953 bis 1963: „Deutscher Friedensrat“) und wurde von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gesteuert. Die DDR grenzte sich ideologisch nach den Lehren des historischen Materialismus gegen die BRD ab.[2]

Die Vorstellungen von Demokratie der beiden deutschen Staaten waren unvereinbar. Die DDR verweigerte sich den Grundlagen einer liberalen repräsentativen Demokratie nach dem Grundgesetz. Die BRD war aus der Sicht der real-sozialistischen DDR ein kapitalistischer und imperialistischer Staat. Das hatte Folgen für die Entwicklung von Friedensarbeit und Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten.

2. Welches waren die wichtigen Stationen der Friedensbewegung in der BRD?

Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, Verstärkung des Feindbildes „Kommunismus“

Die Westzonen Deutschlands (amerikanische, britische und französische Zone) standen von 1945 bis 1949 völkerrechtlich unter Kriegsrecht, die alte Bundesrepublik von 1949 bis 1955 unter Besatzungsrecht. Sie konnte also in wichtigen außenpolitischen Angelegenheiten nur mit den westlichen Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich handeln, aber nicht gegen sie. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer wollte für den jungen deutschen Teilstaat die Wiedergewinnung der Souveränität erreichen. Zur Herstellung dieses „machtpolitischen Status“ strebte er die Wiederbewaffnung an. Eine Wiedervereinigung mit kriegerischen Mitteln lag nicht in seiner Absicht, wohl aber die feste Integration der Republik in das westliche Bündnis und eine mögliche Wiedervereinigung mit dessen Hilfe. Gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, aber mit der Mehrheit des Bundestages konnte Adenauer seine Politik der Wiederbewaffnung und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1956) durchsetzen. Die Bundestagswahlen 1949 und 1953 gewann Adenauer mit der CDU/CSU, weil das aufziehende Wirtschaftswunder den primären Wunsch der Bevölkerung nach Überwindung der Nachkriegsnot erfüllte. Die „Remilitarisierung“ löste erheblichen Widerspruch in den Regierungsparteien, in der parlamentarischen Opposition und in der breiten Öffentlichkeit aus. Erstmals machte sich die Friedensbewegung unter dem Kürzel „Ohne-mich-Bewegung“ bemerkbar. Gustav Walter Heinemann, Innenminister unter Adenauer und damals noch CDU, 1952 Gründer der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), später Mitglied der SPD und Bundespräsident (1969 bis 1974) trat 1950 wegen seiner Opposition zu Adenauers Plänen der Bewaffnung der BRD zurück. Vorstellungen für ein entmilitarisiertes neutrales Gesamtdeutschland als Brücke zwischen Ost und West im Kalten Krieg setzten sich nicht durch. Grund dafür war eine große Breite der Motive für die Ablehnung der Wiederbewaffnung, die eine „gemeinsame, strategisch organisierte Widerstandsaktion praktisch unmöglich“ [3] machte. 

Auch die von der KPD in Gang gesetzte „Volksbefragung“ zur Wiederbewaffnung (Januar 1951 bis März 1952) schuf keine einheitliche Bewegung. Im Gegenteil: Die Friedensinitiativen gerieten im Kalten Krieg unter den Verdacht, den Kommunismus sowjetischer Prägung zu unterstützen. Denn „die US-amerikanischen Nachkriegregierungen instrumentalisierten den Anti-Kommunismus als tragendes Element ihrer Innen- und Außenpolitik“, um ihre „eigene Weltmachtposition“ auszubauen. Bei der westdeutschen Bevölkerung stieß die Wiederbewaffnung im Laufe der weiteren machtpolitischen Entwicklungen auf immer weniger Widerstand. Zu Beginn der 1950er Jahre noch lehnte eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Wiederbewaffnung ab. Unter dem Eindruck des Koreakrieges (1950 bis 1953), des Aufstandes 1953 in der DDR und des sowjetischen Einmarsches in Ungarn 1956 schrumpfte die Mehrheit zu einer starken Minderheit. „Frieden“ und „Friedensarbeit“ wurden im Kalten Krieg als „kommunistisch“ denunziert und negativ bewertet. Dieses Feindbild blockierte mental eine realitätstüchtige alternative Deutschlandpolitik. Es reaktivierte negative Muster aus der Zeit der Weimarer Republik und der Nazizeit. Erst mit der Überwindung des Kalten Krieges konnte es wieder eingedämmt werden.

Friedensbewegung gegen den „Atomtod“

Der „Stockholmer Appell“ des „Weltfriedensrates“ forderte schon 1950, alle Atomwaffen zu vernichten und ihre Produktion einzustellen. Die Atomwaffen spielten in der bundesdeutschen Debatte um die Wiederbewaffnung ab 1949 jedoch noch keine Rolle. Erst als 1954 bekannt wurde, dass die USA „taktische“ Atomsprengköpfe auf Kurz- und Mittelstreckenflugkörpern sowie nuklearfähige Geschütze in Westeuropa, u.a. in Westdeutschland, gegen das sowjetische Übergewicht bei konventionellen Panzer- und Truppenverbänden im Zuge ihrer neuen Strategie der „flexible response“  statt der früher gültigen Strategie der „massiven Vergeltung“ bei einem Angriff der UdSSR aufstellten, rührten sich Kräfte gegen das atomare Wettrüsten. Das geschah u.a. in der damals noch gesamtdeutschen evangelischen Kirche, im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und in der KPD[4]. 1954 hatte die Bundesrepublik die Pariser Verträge unterzeichnet und war auf deren Basis ein Jahr später der NATO beigetreten. 1955 begann die Aufstellung der Bundeswehr, und 1956 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Bundeskanzler Adenauer gab im April 1957 bekannt, die Bundeswehr solle mit „taktischen“ Atomsprengköpfen und Abschusseinrichtungen für atomare Kurzstreckenraketen ausgerüstet werden. Adenauer verharmloste diese Raketen als eine „Weiterentwicklung der  Artillerie“, obwohl das NATO-Manöver „CARTE BLANCHE“ 1955 für Deutschland ergeben hatte, dass der Einsatz von 171 Atomwaffen 1,7 Millionen Menschen töten und 3,5 Millionen Menschen verletzen würde – die Folgen der radioaktiven Verseuchung nicht mitgerechnet. Noch im April 1957 protestierten 18 Göttinger Naturwissenschaftler unter der Federführung von Carl Friedrich von Weizsäcker mit dem „Göttinger Appell“ gegen die Atombewaffnung. Im März 1958 rief ein breites Bündnis von SPD, Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB), FDP, der neu gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und kritischen Katholiken, Wissenschaftlern und Schriftstellern unter dem Namen „Kampf dem Atomtod“ zum Widerstand auf. Lokale und regionale Initiativen mit Demonstrationen, Mahnwachen, Gottesdiensten und Massenkundgebungen vereinten 1958 ca. 1,5 Millionen Menschen. Prominente Unterstützer der Kampagne waren Martin Niemöller[5], Helmut Gollwitzer, Albert Schweitzer, Karl Barth, Heinemann und Heinz Kloppenburg.[6] Die Bundesregierung förderte den Antikommunismus zur Beeinflussung der Bevölkerung in ihrem Sinne. Wer gegen die Atomraketen war, galt als Handlanger Moskaus. Der von der CDU beherrschte Bundestag billigte die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearen Einsatzmitteln mit Mehrheit im März 1958. Die Synode der EKD im April 1958 konnte sich nicht zu einer Ablehnung der Atomraketen entschließen. Sie bat die Bundesregierung nach heftigen Diskussionen lediglich, „eine atomare Bewaffnung deutscher Streitkräfte zu vermeiden.“[7] Das Bundesverfassungsgericht erklärte Gesetze der Länder Hamburg und Bremen für eine Volksbefragung über eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr im Juli 1958 für verfassungswidrig und damit für nichtig, weil das Grundgesetz wegen des Grundsatzes der repräsentativen Demokratie Plebiszite einschränke und allein der Bund die Zuständigkeit für die Außenpolitik habe. Auch die Mehrheit der Bevölkerung unterstützte die Kampagne nicht wie erwartet. Das spiegelte sich auch in der Landtagswahl im größten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, die die CDU mit absoluter Mehrheit im Juli 1958 gewann.[8] Die organisatorischen Träger der Kampagne, DGB und SPD, beendeten die Kampagne daraufhin. Weil sie organisatorisch im Wesentlichen von diesen beiden Großorganisationen abhing, brach die Kampagne zusammen.[9] Auch der unmittelbare Anlass für sie entfiel, weil die stationierten atomaren Kurzstreckenraketen letztendlich unter dem Oberbefehl der USA blieben und die Atombewaffnung der Bundeswehr unterblieb. 

Aus kleinen Anfängen gegen die atomaren Waffen etablierte sich dann die Ostermarschbewegung als Aktion. Es begann 1958 in Großbritannien mit dem Marsch zum britischen Atombombenzentrum Aldermaston, den Lord Bertrand Russel und die britische Campaign for Nuclear Disarmament (CND) organisiert hatte. Seit 1960 fand auch in der Bundesrepublik jährlich ein Ostermarsch statt.[10]

Friedensbewegung gegen Marschflugkörper Cruise Missile und Pershing 2 (1979 – 1989)

Die Friedensbewegung der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts in der alten Bundesrepublik war Teil einer internationalen Bewegung und hat deutsche Geschichte geschrieben.[11] Sie hat zusammen mit der Ökologie- und der Frauenbewegung eine ganze Generation politisch sozialisiert. Bei Gesprächen fällt oft der Satz: „Ich war ja auch 1981 im Bonner Hofgarten …“  

Worum ging es der Friedensbewegung, wie arbeitete sie?

Von 1981 bis zur Entscheidung des Bundestages über die Stationierung der neuen nuklearfähigen Mittelstreckenraketen am 22. November 1983 war der vereinbarte und sichere Minimalkonsens der ansonsten pluralistischen Friedensbewegung, die sogenannte „Nachrüstung“[12] der NATO zu verhindern. Sie ist ohne den Vorlauf der aus den Niederlanden übernommenen Friedenswochen an der Basis nicht zu verstehen.[13] Diese Friedensbewegung war eine Ein-Punkt-Bewegung und strikt basis- und zivilgesellschaftlich orientiert. Rüstungspolitisch ging es darum, das eine weltweite Zerstörung und Tod ermöglichende irrationale Wettrüsten[14] des „Westens“ gegen den „Osten“ und umgekehrt zu stoppen und Abrüstung auf beiden Seiten in Gang zu setzen – gegen die im Rahmen der westlichen Abschreckungsdoktrin verfolgte Strategie der „flexible response“ mit der gegenseitig angedrohten Vernichtung durch einen „Zweitschlag“. Der zentrale Satz im Aufruf zur Demonstration und Kundgebung 1981 verlangte keine einseitige Abrüstung, sondern folgte dem Konzept des Gradualismus und dem Prinzip der „gemeinsamen Sicherheit“ im Sinne des schwedischen Ministerpräsidenten S. Olof J. Palme: „Wir fordern die Regierungen der Mitgliedsländer der NATO auf, ihre Zustimmung zum Beschluss über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen zurückzuziehen. Damit soll der Weg für die Verringerung der Atomwaffen in West- und Osteuropa geöffnet werden mit dem Ziel, einen wechselseitigen umfassenden Abrüstungsprozess in Gang zu setzen.“  Ähnlich formulierte der Aufruf zu den Herbstaktionen 1983 das zentrale Anliegen.

Die Friedensbewegungen in Europa wandten sich seit dem Doppelbeschluss der NATO vom 12. Dezember 1979 zur atomaren Bewaffnung mit Großdemonstrationen und anderen Aktionen, einschließlich des zivilen Ungehorsams, gegen die Stationierung von Cruise Missile und Pershing-2-Raketen (letztere nur in der BRD) in europäischen Ländern. Einen großen Anteil daran hatten die christlichen Gruppen der Friedensbewegung. Die Kampagne „Umkehr zum Leben – Die Zeit ist reif für ein Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen“ färbte den evangelischen Kirchentag in Hannover 1983 mit ihren Halstüchern, die zum Zeichen für entschiedene Gewaltfreiheit wurden, violett ein.

Nach der Bonner Kundgebung und Demonstration am 10. Oktober 1981 „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen! Für Abrüstung und Entspannung in Europa!“ mit 300000 Teilnehmenden, die von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (ASF) und der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) allein verantwortet wurde[15] und die die Unterstützung von 800 Organisationen und Gruppen fand, bildete sich zur Vorbereitung auf die zweite große Bonner Demonstration aus Anlass des Besuches  von USA-Präsident Ronald W. Reagan in Deutschland am 10. Juni 1982 (ca. 500000 Teilnehmende) ein größerer Trägerkreis, der „Koordinationsausschuss der Friedensbewegung“ (KA). Zur Vorbereitung der dritten großen Bonner Demonstration am 22. Oktober 1983, einen Monat vor der Abstimmung des Bundestages über die Stationierung von Cruise Missile und Pershing 2 am 22. November 1983, entstand ein neuer Koordinationsausschuss, der bis 1984 sechs „Aktionskonferenzen“ mit bis zu 1200 Teilnehmenden aus den Gruppen im Lande und den „Aktionsherbst 1984“ organisierte. Nach einer „Aktionspause“ wegen des kritisierten „Aktions-Automatismus“ organisierte der KA erst im Juni 1985 wieder einen „Großen Ratschlag“ mit 800 Teilnehmenden zur strategischen Diskussion der Weiterarbeit. Die Aktionskonferenzen und der Große Ratschlag waren spannend und voller Überraschungen bis zur letzten Minute. Der KA handelte durch eine gewählte Geschäftsführung und ein Büro in Bonn. Die außerordentliche starke Basis der Friedensbewegung wuchs rapide in über 5000 bis 6000 lokalen und regionalen, tatsächlich aber nie gezählten Gruppen heran. Diese waren in der Regel ähnlich pluralistisch wie der KA verfasst.

Die bis zu 30 Mitgliedsorganisationen des KA repräsentierten sehr unterschiedliche und auch gegensätzliche programmatische Aussagen, Zielgruppen und politische Kulturen: Parteien und parteinahe Organisationen, Jugendverbände, Koordinationsgruppen und Zusammenschlüsse, Frauen, Kriegsdienstgegner, Antifaschisten, Dritte-Welt-Gruppen, Ökologiegruppen, christliche Gruppen und Personenbündnisse. Sie ordneten sich jeweils einem oder mehreren der sechs „Spektren“ des KA zu: Christen, Unabhängige, Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KOFAZ), Sozialdemokraten/Jungsozialisten, Grüne und „Sonstige“. Diese „Spektren“ strukturierten die  konfliktreiche und deshalb komplizierte Arbeit des KA.[16] 

Den Beschluss des Bundestages vom 22. November 1983 zur Stationierung der Raketen bewerteten Teile der Bewegung als frustrierende, in den Methoden auch radikalisierende politische Niederlage, andere als Herausforderung für eine nachhaltig antimilitaristische Politik. Die Frage „Wie weiter?“ fand keine gemeinsame Antwort mehr. Vielmehr löste sich die Ein-Punkt- in eine Mehr-Punkt-Bewegung auf, die sich je nach Ausrichtung der Gruppe oder Fachorganisation (z.B. Wissenschaftler für den Frieden, Darmstädter Signal kritischer Soldaten) speziellen Aufgaben widmete, die der Rüstungswettlauf bisher überdeckt hatte. Im Dezember 1989 löste sich der KA zugunsten eines neu gegründeten „Netzwerkes Friedenskooperative“ auf, das sich „als informeller Dachverband von Friedens- und Menschenrechtsgruppen“ und als „Knotenpunkt und Koordinierungsstelle für außerparlamentarische Aktion und „Politik von unten“ versteht.[17]

Der Konsens der im KA aktiven Organisationen zur Frage der Gewalt gegen Personen oder Sachen bei den vom KA verantworteten Demonstrationen, Kundgebungen und anderen  Maßnahmen war: „Die Friedensbewegung ist und bleibt gewaltfrei.“[18] Das war nicht nur taktisch begründet, sondern aus dem Verständnis von Frieden heraus gedacht, durchgesetzt aus gegebenem Anlass immer wieder aktualisiert. Diese Haltung korrespondierte mit dem Verständnis eines demokratischen Versammlungsrechtes nach Artikel 8 Grundgesetz und als Ausdruck der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz. In der Konsequenz gab es zwischen den Verantwortlichen der Maßnahmen, die nach dem Demonstrationsgesetz nur angemeldet, aber nicht genehmigt werden mussten, und der Polizei planmäßige Kontakte zur Absprache z.B. von Marschrouten und Sicherheitsfragen.[19]

Immer wiederkehrende Themen der heftigen internen Auseinandersetzungen im KA[20] und in der Friedensbewegung dieser Jahre allgemein waren u.a. die Strategien zur Abrüstung (Gradualismus, einseitige Abrüstung?[21]), der Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles, das Verhältnis Westeuropas zur Vormacht USA, das Verhältnis der Friedensbewegung zum Staat, staatlicher Gewalt und zu politischen Parteien, neue Methoden des Protestes und des Widerstandes (ziviler Ungehorsam, Hungerstreik), die Zusammenstellung der Liste der Redner und Rednerinnen[22] und die konkrete Planung und Verantwortlichkeit (Abläufe, Finanzierung) der Aktionen. Vor allem mit dem KOFAZ-Spektrum gab es Konflikte zum Kriegsrecht in Polen, zur unabhängigen DDR-Friedensbewegung und zur Rolle der Sowjetunion in der internationalen Politik.[23] Der Doppelbeschluss der NATO und der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan erfolgten im Abstand von nur zwei Wochen im Dezember 1979. Mit Friedensgruppen in dem „anderen Amerika“ bestand ein reger Austausch einschließlich einer Vortragsreise von Rednern und Rednerinnen in die USA, um dem Vorwurf des „Antiamerikanismus“ zu wehren. Jeweils besondere Beziehungen zur eigenständigen Friedensarbeit der Kirchen und Friedensgruppen in der DDR pflogen die westdeutschen Organisationen über ihre eigenen offiziellen und inoffiziellen Verbindungen.

Was bleibt aus heutiger Sicht?

Die Friedensbewegung, zu der sich 8 Prozent der Bevölkerung zählten und mit der 61 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung sympathisierten[24], bewirkte zwar nicht die Aufhebung des Doppelbeschlusses von 1979, ebnete aber als eine soziale Bewegung durch eine breite, tiefgehende Mobilisierung späteren Abrüstungsabkommen und antimilitaristischen Positionen (mehrheitliche Ablehnung des Irakkrieges 2003!) den politischen Weg. Die grüne Partei entstand auch deshalb, weil die SPD die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt hatte. Die EKD entschied im Gegensatz zur Friedensdenkschrift von 1981 bezüglich der VIII. Heidelberger These erst im Jahre 2007: „Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“[25] Die Aufgabe blieb: Immer noch lagern 20 atomare Sprengköpfe im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ Deutschlands in Büchel/Rheinland-Pfalz. Die Raketenabwehrpläne der USA für Polen und Tschechien veranlassten Russland dazu, mit der Kündigung des 1987 unterschriebenen Vertrages über die Liquidierung der Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite der USA und der UdSSR (INF-Vertrag) zu drohen.[26]

Die Friedensbewegung half, den dogmatischen Antikommunismus des Kalten Krieges zu überwinden, der ein reales Hindernis zukunftsfähiger Politik war. Sie suchte intern und öffentlich das Gespräch und die Auseinandersetzung mit jenen, die den „realen Sozialismus“ in der DDR oder der Sowjetunion und seine Politik vertraten. Im KA gelang es auch, SPD- und DKP-Vertreter, die gemäß einem Abgrenzungsbeschluss der SPD zur DKP nicht mit deren Anhängern im KA kooperieren durften, miteinander ins Gespräch zu bringen. Viele ins Persönliche gehende Unterredungen fanden statt. Feindbilder wurden friedenspädagogisch und in Seminaren und Aktionen (z.B.  Kontaktgespräche in Moskau mit Vertretern des Außen- und Verteidigungsministeriums, des Instituts für USA- und Kanada-Studien der russischen Akademie der Wissenschaften [„Arbatow-Institut“]) aufgearbeitet. Anspruchsvoll war die Aktion „Versöhnung und Frieden mit den Völkern der Sowjetunion“ im Hinblick auf den Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Ab 1987 begannen in der BRD Friedensgruppen und Kirchen[27], diese bisher in der deutschen Öffentlichkeit nicht aufgearbeitete Katastrophe zu thematisieren. Mehrere bis heute nachwirkende Kontaktreisen, deutsch-sowjetische Friedenswochen 1989 und 1990 (schon gesamtdeutsch mit Teilnehmenden aus verschiedenen Friedensinitiativen in der DDR) und längerfristige Engagements (Tschernobyl-Initiativen, Bildungseinrichtungen) fanden statt. Die Friedensbewegung untermauerte mit ihrem breiten Fächer von Aktivitäten den KSZE-Prozess für Entspannung in Europa. Der Streit über Ideologien und gemeinsame Sicherheit zwischen der Bundesrepublik und der DDR, von großer Bedeutung für die innere Bereitschaft zur Vereinigung beider deutscher Staaten, und vorangetrieben durch das „SPD:SED-Papier“ von 1987[28], fand auch in der Friedensbewegung statt. Versuche des damaligen Innenministers Friedrich Zimmermann, die Friedensbewegung als kommunistisch unterwandert und gesteuert zu diskreditieren, z. B. durch eine „Bürgerinformation“ über die Einflussnahme „Moskaus“ auf den Koordinationsausschuss der Friedensbewegung, sind heute Geschichte. Das Bundesinnenministerium hatte eine Broschüre „Moskaus getarnte Helfer“ veröffentlicht, in dem die „Einwirkungsorganisationen“ der „vom Zentralkomitee der KPdSU angeleiteten internationalen Hilfsorganisationen zur Durchsetzung der Ziele des Kommunismus Moskauer Prägung“ vorgeführt wurden.[29] Einer der wesentlichen Gründe für die Implosion der Sowjetunion 1989 war die Entspannungspolitik und die Helsinki-Schlussakte von 1975, nicht die westliche Politik der Stärke oder das „Niederrüsten“, wie von einschlägig interessierter Seite oft behauptet.

Die Friedensbewegung hatte in all ihren Phasen Erfolg, weil sie gewaltfrei agierte – auch gegen die Bemühungen von gewaltbereiten Gruppen und gegen die geradezu hysterischen Erwartungen der konservativen Bundesregierung sowie von Medien. 1981 ein ernsthaftes öffentliches Problem, heute eine Anekdote: Die Bonner Geschäftsleute hatten aus Angst vor Krawallen durchweg ihre Schaufenster mit Brettern vernageln lassen. Ein Demonstrant schrieb darauf: „Jetzt bin ich extra aus Moskau gekommen, um hier einzukaufen.“ Familien konnten Demonstrationen mit Kindern ohne Angst besuchen. Verantwortliche der Friedensbewegung und Innenminister und Polizeiverantwortliche trafen sich zu „Deeskalationsgesprächen“, um vertrauensbildende Maßnahmen und demonstrationsnützliche Kooperation zu beraten. In seinem Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985 (Aktenzeichen 1 BvR 233, 341/81) würdigte das Bundesverfassungsgericht den Gorleben-Treck 1979, die Bonner Friedensdemonstration 1981 und die süddeutsche Menschenkette 1983 als beispielhaft für die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 Grundgesetz. In der juristisch und politisch höchst strittigen Frage, ob Sitzblockaden des zivilen Ungehorsams als nötigende Gewalt im Sinne von § 240 Strafgesetzbuch zu verfolgen seien, beschloss das Bundesverfassungsgericht am 10. Januar 1995 (1 BvR 723/89) ein „nein“, weil  der Gewaltbegriff des § 240 Strafgesetzbuch nicht mehr „bestimmt“ im Sinne des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz gebraucht würde und deshalb  „eingegrenzt“ werden müsse. Damit waren die Prozesse gegen die Teilnehmer an Sitzblockaden obsolet.

Die Friedensbewegung war auf lange Sicht politisch erfolgreich, weil sie, ehe die etablierte Politik der politischen Parteien und der Bundesregierung(en) dies zu realisieren in der Lage war, die Idee des „Wandels durch Annäherung“ (Egon Bahr), der „gemeinsamen Sicherheit“ (Palme), und des „Neuen Denkens“ (Michael S. Gorbatschow) vorwegnehmend popularisierte und eine Mehrheit der Bevölkerung für diese miteinander verwandten Maximen von Friedenspolitik gewann.[30] Die Friedensbewegung handelte im Sinne des zuerst vom ehemaligen Bundesverfassungsrichter Helmut Simon in die Debatte gebrachten „Friedensgebotes des Grundgesetzes.“[31] Aber was hat sie konkret erreicht, besonders für den Fall der Mauer 1989 und das Ende der Blockkonfrontation?

3. Welche Rolle spielte die Friedensbewegung für den Fall der Mauer 1989 und das Ende der Blockkonfrontation?

Haben die westeuropäische und die westdeutsche Friedensbewegung gegen die Stationierung  von Cruise Missiles und Pershing-2-Raketen in Westeuropa (1983) nach dem NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 sowie die Friedensengagierten in der DDR politisch versagt? Welche Rolle spielte die Friedensszene beim Fall der Mauer 1989 und für das Ende der Blockkonfrontation? Das sind wesentliche Fragen zum Selbstverständnis der Friedensbewegungen nach 1979. Über Antworten wird gestritten. Marcin Zaborowski, Direktor des Polnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten, diskutiert Alternativen: Westeuropa und die Russen sähen die Ursache für den Fall der Mauer als eine Folge von Gorbatschows Perestroika und des Wunsches der sowjetischen Führer, die Ost-West-Spaltung zu überwinden. Mittel- und Osteuropäer hielten die dramatisch schlechte ökonomische Situation der UdSSR und die Dissidentenbewegungen in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei für den Auslöser. Auf US-amerikanischer Seite würde angeführt, die Sowjetunion habe im Wettrüsten des Präsidenten Reagan, insbesondere in Gestalt der Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI), nicht mithalten können und habe deshalb politische Konzessionen machen müssen.[32]

Die westdeutsche war Teil der westeuropäischen Friedensbewegungen gegen die Stationierung von 108 Pershing-2-Raketen in der Bundesrepublik und 464 Marschflugkörpern (Cruise Missiles) in Großbritannien (160), Italien (112), Bundesrepublik (96), Belgien (48) und den Niederlanden (48). Der Minimalkonsens der Ein-Punkt-Bewegung richtete sich über politische, gesellschaftliche und konfessionelle Grenzen hinweg ausschließlich gegen die atomaren Waffen. Als der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung der Mittelstreckenwaffen bestätigte, qualifizierten viele in der Friedensbewegung dies – nach bisher einmaligen Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Kundgebungen[33], gar Fastenaktionen – als eine Niederlage, weil die damalige CDU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl gemäß dem Motto „Ihr demonstriert – wir regieren“ den NATO-Beschluss gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung ausführte.

Diese Ohmacht als Niederlage einzustufen, ist jedoch eine historische Fehleinschätzung. Denn die neuere Friedensbewegung ab 1979 gestaltete bis zum Ende der Blockkonfrontation eine nachhaltige, wertorientierte und grundlegende Zivilisierung europäischer Politik mit. Ihre Akteure hatten indirekt politisch Erfolg damit, wirksam die außen- und sicherheitspolitische Linie einer Entspannungspolitik „von unten“[34] zu unterstützen.

Die Entspannungspolitik zielte auf die Überwindung der gefährlichen Konfrontation im Kalten Krieg zwischen den Staaten des Westens in der NATO und denen des Ostens im Warschauer Pakt. Der Systemkonflikt behinderte die Lösung der europäischen Nachkriegsprobleme, u.a. der „deutschen Frage“, der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Polen, und die Beendigung des atomaren und des konventionellen Wettrüstens. Bahrs in Tutzing 1963 dargelegte Formel „Wandel durch Annäherung“ zur Anerkennung des status quo in der Perspektive einer europäischen Friedensordnung wurde die Grundlage der Ostpolitik von Willy Brandt (SPD). Die Entspannungspolitik setzte sich in Gestalt der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE am 1. August 1975 durch. Sie verankerte Grundwerte und Maßstäbe der Menschen- und Bürgerrechte in mittel- und osteuropäischen Staaten und etablierte „vertrauensbildende Maßnahmen“ gegen wechselseitige Bedrohungsvorstellungen. So wurden die Blockgrenzen durchlöchert und ganz ohne militärische Gewalt schleichend unterminiert.[35]

Die Friedensbewegung hat die Verhandlungen über den Abbau von Raketen in Ost und West politisch unter Druck gesetzt und damit die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur mitbestimmt. In den Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik, in der NATO und zwischen den Vormächten des Kalten Krieges, den USA und der Sowjetunion mobilisierte die Friedensbewegung die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft gegen die so genannte Nachrüstung, die mit dem NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 ihren Lauf nahm. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hatte schon in seiner Londoner Rede vom 28. Oktober 1977 darauf aufmerksam gemacht, das Sicherheitsbedürfnis der westeuropäischen Bündnispartner der NATO werde bei den Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion beeinträchtigt, wenn es nicht gelänge, die Westeuropäer gegen die in Europa durch die SS-20 überlegene Sowjetunion zu schützen.[36] Entsprechend sah der Doppelbeschluss militärisch die Aufstellung von US-amerikanischen Pershing 2 und Cruise Missiles in Westeuropa vor, aber – von gleicher Bedeutung – parallel und komplementär dazu das Angebot an die Sowjetunion zu rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen über Raketen mittlerer und größerer Reichweite. Die westlichen Mittelstreckenraketen sollten nur stationiert werden, wenn die Verhandlungen scheiterten. Der damals gültige strategische Rahmen war die NATO-Strategie der „flexiblen Erwiderung“ (flexible response).[37] Die Friedensbewegung folgte aber der durch die Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ und anderer durch Wissenschaftler belegten Erkenntnis[38], die Bundesrepublik sei mit Kernwaffen nicht zu „verteidigen“, ohne sie vollständig zu zerstören. Die Friedensbewegung stellte die Tabufrage: „Was ist, wenn die Abschreckung fehlschlägt?“

Erregte, scharfe öffentliche Debatten dominierten in Gesellschaft und Politik. Die Friedensbewegung nutzte die Widersprüche[39] des NATO-Doppelbeschlusses für ihre Argumente. Sie wandte sich aus grundsätzlichen ethischen und friedenspolitischen Gründen – ebenso wie die evangelischen Kirchen in der DDR – gegen die Abschreckung als Instrument von Sicherheitspolitik. Kampagnen wie „Umkehr zum Leben – Die Zeit ist reif für ein Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen“ von Christenmenschen und Kirchen gingen so weit, den status confessionis gegen die Atomwaffen auszurufen.[40] Der gradualistisch konzipierte Aufruf von Friedensorganisationen aus den Niederlanden, der Bundesrepublik und anderen europäischen Ländern zu der ersten der großen Demonstrationen und Kundgebungen unter dem Motto „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen! Für Abrüstung und Entspannung in Europa!“ zum 10. Oktober 1981 in Bonn forderte: „Wir wehren uns gegen neue Atomwaffen in Europa. Wir fordern die Regierungen der Mitgliedsländer der NATO auf, ihre Zustimmung zum Beschluss über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen zurückzuziehen. Damit soll der Weg für die Verringerung der Atomwaffen in West- und Osteuropa geöffnet werden mit dem Ziel, einen wechselseitigen umfassenden Abrüstungsprozess in Gang zu setzen. Wir treten ein für ein atomwaffenfreies Europa, in dem Atomwaffen weder hergestellt, noch gelagert oder verwendet werden. … Unsere Regierungen müssen eigene Initiativen für wirksame Abrüstungsverhandlungen und zur Fortsetzung der Entspannungspolitik ergreifen.“[41] Die gemäß dem Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses Ende 1981 begonnenen Verhandlungen zwischen Ost und West scheiterten. Trotz eskalierter Protestformen im „heißen Herbst“ 1983 wurden die neuen Mittelstreckenraketen auf Beschluss des Bundestages in der Bundesrepublik ab dem 10. Dezember 1983 stationiert. Danach stagnierten zunächst weitere Rüstungskontrollverhandlungen.

Als „wichtigstes Verdienst“ attestiert Thomas Risse-Kappen der neuen Friedensbewegung,  eine „gründliche Veränderung der sicherheitspolitischen Kultur“ „erstmals seit den fünfziger Jahren“ angestoßen zu haben. „Die aufkommende Friedensbewegung war 1981 der eigentliche Grund, warum sich USA und NATO nach langem internem Streit auf den Vorschlag einer weltweiten Null-Lösung bei den weitreichenden Systemen einließen.“[42] Dies hätte „ohne die Massendemonstrationen der neuen Friedensbewegung“ nicht geschehen können.[43] Die Aktiven der Friedensbewegung demokratisierten auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie präsentierten „Gegenexperten“ [44]. Besonders bedeutsam wurden Fachinitiativen wie das Darmstädter Signal, das die Auseinandersetzung unter dem Schutz der Grundrechte in die Bundeswehr hineintrug.[45] Über Teile der SPD und die neu entstandene Partei der Grünen drang die Friedensbewegung tief in den parlamentarischen Raum vor. Die Mitglieder der Kirchen votierten zum allergrößten Teil gegen die „Nachrüstung“. Unabhängig davon diskutierte die Friedens- und Konfliktforschung die zerstörerischen Folgen von Abschreckungspolitik. Frieden bedeutete nicht mehr nur negativ die „Abwesenheit von Krieg“, sondern wurde positiv besetzt.[46]

Nachdem Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU geworden war, kam wieder Bewegung in die bisher ergebnislosen Verhandlungen.[47] Er brachte entgegen der Position seines langjährigen Vorgängers Leonid I. Breshnew eine Null-Lösung für Mittelstreckenraketen (einschließlich der SS-20) in Europa ins Gespräch und kam damit westeuropäischen Interessen entgegen. Maßgeblich dafür sind nach Risse-Kappen die innenpolitischen Entwicklungen im Zeichen des so bezeichneten Neuen Denkens und der Perestroika, also eines gesellschaftlichen Umbaus, der nicht nur die Innen- und Wirtschaftspolitik, sondern auch die Außen- und Sicherheitspolitik veränderte.[48] „Ohne das Signal eines gesellschaftlich breit getragenen Entspannungswillens nach Osten, dass die Friedensbewegung katalytisch bewirkt hatte, hätte Gorbatschow seinen neuen Kurs nicht durchhalten können; ohne diesen Kurswechsel der sowjetischen Führung andererseits wäre kein hinreichender Spielraum für grenzüberschreitende Demokratiebewegungen entstanden“ urteilt Corinna Hauswedell.[49] Das Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow vom 10. bis 12. Oktober 1986 in Reykjavik erbrachte zwar in Sachen Mittelstreckenraketen in Ost und West einen Durchbruch, scheiterte aber zunächst daran, dass die sowjetische Seite ein Junktim zwischen einem Vertrag über Mittelstreckenwaffen und der Weltraumrüstung in Gestalt der SDI der USA herstellte. Nach schwierigen Verhandlungen unterzeichneten die USA und die UdSSR am 8. Dezember 1987 in Washington den Vertrag über die Intermediate-range Nuclear Forces (INF-Vertrag), betreffend Raketen zwischen 500 und 5500 km Reichweite. Das war also eine Doppel-Null-Lösung. Der Abbau der Raketen begann in Ost und West. Das entsprach annähernd den Forderungen der Friedensbewegung ab 1979.

Nach dem INF-Vertrag von 1987 zerfiel der Minimalkonsens der Friedensbewegung gänzlich und damit ihre Mobilisierungskraft in Sachen Abrüstung. Der Wille, die Entspannung im „europäischen Haus“ zu fördern, fiel aber in der Bundesrepublik und in der DDR, wo die Ökumenische Versammlung Dresden – Magdeburg – Dresden 1988/1989 die „friedliche Revolution“ ab 1989 mental vorbereitete, auf fruchtbaren Boden. Die komplizierten deutsch-deutschen und die Verhandlungen mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges kamen voran. Sie führten zum Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990, der die vollständige Souveränität Deutschlands wiederherstellte. Ohne die „friedliche Revolution“ in der DDR, die maßgeblich von den dortigen Kirchen und Friedensgruppen getragen wurde, wäre das nicht möglich geworden. Die Unterzeichnung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Paktes vom 19. November 1990 markierte dann das Ende des Kalten Krieges.

So lässt sich in der dialektisch wirksamen und streitigen Interaktion zwischen Zivilgesellschaft (Friedensbewegung) und Staat sowie zwischen Staaten und Bündnissen zur Abrüstung eine erfolgreiche konstruktive Rolle der Friedensbewegten und ihrer Organisationen in der Zeit von 1979 bis 1990 erkennen. Die Abschreckung als sicherheitspolitische Maxime staatlicherseits bleibt aber doch wahrscheinlich so lange, wie die Atomwaffen nicht abgerüstet sind.

Wie haben sich die friedensethischen Positionen in den deutschen evangelischen Kirchen und zu kirchlichen Standpunkten in der Friedensfrage im Verhältnis BRD – DDR entwickelt?

Unmittelbare Nachkriegszeit

In der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945 bis zur Spaltung Deutschlands 1949) ging es in den deutschen evangelischen Kirchen an erster Stelle um die Beseitigung der Trümmer des so genannten Dritten Reiches. Die evangelischen Kirchen hatten den Nationalsozialismus und seinen Einfluss durch die Deutschen Christen überlebt und suchten nun unter schwierigen politischen Umständen nach neuer innerlicher und organisatorischer Einheit. Die Frage nach dem Gewissen avancierte in der Auseinandersetzung mit Diktatur und Krieg zu dem zentralen Thema evangelischer Friedensethik nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Wille zum möglichst schnellen Wiederaufbau überlagerte aber die Diskussion um die friedensethischen und friedenspolitischen Folgen der Nazizeit.

Die Stuttgarter Schulderklärung vom 19. Oktober 1945 des Rates der EKD und das Darmstädter Wort vom 8. August 1947 des Bruderrates der Bekennenden Kirche fanden keine mehrheitliche Resonanz in den Kirchen und der Öffentlichkeit.

Der Kalte Krieg zwischen den Systemen Ost – West und die konventionelle und atomare Abschreckung

Die EKD blieb bis 1969 eine Klammer zwischen beiden deutschen Staaten. Die Kontroversen um die persönliche Kriegsdienstverweigerung, die Ablehnung einer atomaren Bewaffnung und die die Überwindung des Wettrüstens bestimmten die friedensethische und friedenspolische Auseinadersetzung in den Kirchen. In der Bundesrepublik und in der DDR entwickelten sich entsprechend den politischen Systemen gegensätzliche friedensethische und friedenpolitische Profile. Gegen eine Friedensforschung, die sich nur auf „Konfliktkontrolle und Konfliktschlichtung“ im Kalten Krieg konzentrierte, etablierte sich die „kritische Friedensforschung“. [50] Daran arbeitete auch die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg mit ihrem Projekt „Der Beitrag von Theologie und Kirche zum Frieden.[51] Die Heidelberger Minimierungsformel, wonach Frieden ein Prozess zur Verminderung von Gewalt, Not, Unfreiheit und Angst[52] ist, bildete den theologischen Grundstock des späteren Leitbildes vom gerechten Frieden. Erstmals gewannen nach heutigem Sprachgebrauch zivilgesellschaftliche Gruppen in West- und Ostdeutschland durch die atompazifistische Friedensbewegung Einfluss auf die Politik. Sie wollten die atomare „Nachrüstung“ im Westen mit Pershing-2- und Cruise-Missile-Raketen mit einer Einpunktkampagne verhindern. Mit dem Beschluss von 1972 der NATO und des Warschauer Paktes zur Vorbereitung der 1973 eröffneten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) begann ein neuer Prozess der Entspannung in den internationalen Beziehungen mit drei „Körben“ (Korb I: Prinzipiendekalog, z.B. territoriale Integrität der Staaten, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Selbstbestimmung der Völker, Korb II: Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt, Sicherheit in Europa, Korb III: u.a. Grundsätze der Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen). Die KSZE trug zum Abbau der Spannung in Europa bei. Einzelne Staaten im Warschauer Pakt (zuerst Polen) emanzipierten sich von der UdSSR und trugen zur Erosion des Paktes bei. Am Ende stand im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion.

Der gegenseitige konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung seit der Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 arbeitete die existenzielle Bedeutung der Gerechtigkeit (vorrangige Option für die Armen) und der Bewahrung der Schöpfung heraus. Er erwies sich als die Quelle, aus der sich die friedensethische und friedenspolitische Entwicklung von Kirchen und christlichen Friedensgruppen blockübergreifend in Ost und West gegen die Abschreckung speiste.

Friedensethische und friedenspolitische Auseinandersetzungen in den westdeutschen evangelischen Kirchen

Die Remilitarisierung der BRD im Zuge des Beitritts zur NATO 1955 provozierte eine heftige friedensethische und friedenspolitische Auseinandersetzung in den evangelischen Kirchen. Die Synode der EKD beschloss im April 1958 einen Text, der als „Ohnmachtsformel“ bekannt ist: „Die unter uns bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen sind tief. Sie reichen von der Überzeugung, dass schon die Herstellung und Bereithaltung von Massenvernichtungsmitteln aller Art Sünde vor Gott ist, bis zur Überzeugung, dass Situationen denkbar sind, in denen in der Pflicht zur Verteidigung der Widerstand mit gleichwertigen Waffen vor Gott verantwortet werden kann.“[53] Die FEST in Heidelberg, führte die friedensethische Debatte zur atomaren Bewaffnung auf wissenschaftlicher Ebene weiter. Im Jahre 1959 veröffentlichte sie die so bezeichneten Heidelberger Thesen zur Frage gegensätzlicher Gewissensentscheidungen zur Existenz von Atomwaffen: Ist der Einsatz von atomaren Waffen vor dem Gewissen des Soldaten friedensethisch zu vertreten? Die Thesen wurden von einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission auf Anregung von Militärbischof Hermann Kunst erarbeitet und durch von Weizsäcker formuliert. Die Heidelberger Thesen sind zwar nie förmlich von einer evangelischen Kirche beschlossen worden, etablierten sich aber als Kompromiss im deutschen Protestantismus. These VIII lautete: „Die Kirche muss auch die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“[54] Dies wird „als rasch vorübergehender Übergang“ qualifiziert.

Die erste Friedensdenkschrift der EKD „Frieden wahren, fördern und erneuern“ von 1981 weist die Richtung evangelischer Friedensethik so: „Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg.“[55] Die EKD lehnte dabei die von Max Weber aufgestellte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ab. Denn beide würden sich gegenseitig fordern. Nur im Gewissen erhielte Verantwortung ihren Grund und ihre Grenze, und nur in der Übernahme der Verantwortung würde das Gewissen konkret. Die Denkschrift forderte, den „Vorrang einer umfassenden politischen Sicherung des Friedens vor der militärischen Rüstung wiederzugewinnen.“ „Näherungslösungen“ in Richtung auf ein Konzept blockübergreifender und umfassender Kooperation sowie die Entwicklung eines typisch defensiven Verteidigungskonzeptes seien nötig. Die Denkschrift erneuerte jedoch die VIII. Heidelberger These von 1959. Danach kann der Dienst in der Bundeswehr ein Ergebnis der eigenen Gewissensprüfung sein. Die Denkschrift spricht sich nicht für den Vorrang der Kriegsdienstverweigerung aus.

Die Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“[56] setzte nicht wie die Heidelberger Thesen von 1959 bei der Komplementarität unterschiedlicher Wege und der individuellen Gewissensentscheidung, sondern bei der theologischen Frage an, ob die atomare Bewaffnung mit dem Bekenntnis des Glaubens vereinbar sei. Der reformierte Bund verneinte das. Nach Ansicht des Moderamens geht die theologische Frage den ethischen Fragen der Beurteilung voraus. Die atomare Rüstung mache die Überlebensfrage zur Glaubensfrage. Das reformierte Leitungsgremium sah den Fall des Bekenntnisses und den status confessionis gegeben. Durch die atomare Rüstung sei eine Situation ohne Ermessenspielraum für andere Entscheidungen und von Bedeutung für die Kirchengemeinschaft entstanden. Die dahinter stehende pazifistische Position („Nuklearpazifismus“) war nicht im Sinne eines grundsätzlichen Pazifismus gemeint.

Im Verlauf der hochstreitigen Auseinandersetzung zum status confessionis sagte der Moderator des Reformierten Bundes, Hans-Joachim Kraus, bei der Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum „Der status confessionis und die Einheit der Kirche“ im Januar 1983, die Erklärung des Moderamens sei „kein Bekenntnis im klassischen Sinn, sondern wirklich eine Erklärung, allerdings eine solche Erklärung, die die Unvereinbarkeit der Androhung und Aufhäufung von Massenvernichtungsmitteln mit dem Bekenntnis des Glaubens als unabweisbar und dringlich herausstellt, die also im Hinweis auf das christliche Bekenntnis des Glaubens – bekennt.“ Er sei „bereit, den von Wolfgang Huber eingeführten Begriff des processus confessioniszu verwenden, und zwar in dem Sinne eines Prozesses wachsender Einsicht in die unbedingte Notwendigkeit und Dringlichkeit des Bekennens, auch in Einsicht der … Unvereinbarkeit … atomarer Mas77senvernichtungsmittel mit dem christlichen Bekenntnis des Glaubens an Gott den Schöpfer und Versöhner.“[57]

Die Kampagne der christlichen Gruppen in der Friedensbewegung „Umkehr zum Leben – Die Zeit ist reif für ein Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen“, die den Deutschen Evangelischen Kirchentag 1983 in Hannover mit ihren Halstüchern violett färbte, folgte in ihrer Begründung dem reformierten Moderamen.[58]

Friedensethische- und friedenspolitische Auseinandersetzungen in der DDR

Wie eingangs dargelegt, waren die politischen Koordinaten des Staates DDR antiimperialistisch und antikapitalistisch[59] festgelegt. Das SPD-SED-Papier von 1987 der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und der Grundwertekommission der SPD zum Thema: „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ erläuterte dazu: „Für Marxisten-Leninisten ist Demokratie als Form der Machtausübung in ihrem Wesen durch die Eigentumsverhältnisse an den entscheidenden Produktionsmitteln und der damit verbundenen politischen Macht geprägt. Daher ist sie für die Überführung der wichtigen Produktionsmittel in Gemeineigentum und die politische Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen Werktätigen das Fundament umfassender demokratischer Rechte. Sie verstehen Demokratie vor allem als die reale Mitwirkung der Werktätigen an der Leitung und Gestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft und die Kontrolle darüber.“[60] Die SED-Zeitung „Neues Deutschland“ kommentierte das Papier nach der vollständigen Veröffentlichung am 28. August 1987: „In dem Dokument wird festgestellt: Es gibt keine ideologische Koexistenz. Keine Konvergenz der Systeme. Die Gegensätze werden klar formuliert. So wird der Streit andauern über Begriff und Wirklichkeit der Demokratie, der Menschenrechte, der Machtverhältnisse, der sozialökonomischen Grundlagen, das Verhältnis von wissenschaftlich-technischem und sozialem Fortschritt…. Indes hat unsere Partei wiederholt ihren Willen bekundet, die ideologische Auseinandersetzung in zivilisierten Formen zu führen. Das Wichtigste ist, dass ideologische Gegensätze nicht auf die staatliche Ebene übertragen werden, dass sie nicht auf die internationalen Beziehungen durchschlagen.“[61]

Die Eigenständigkeit der DDR-Kirchen in Friedensfragen

Im Rahmen dieses räumlich begrenzten Aufsatzes kann auf die Auseinandersetzung zu Friedensfragen in der DDR schwerpunktmäßig nur am Beispiel der Friedensarbeit der evangelischen Kirchen eingegangen werden. Die Kirchen in der DDR haben sich immer dagegen gewehrt, ihre Arbeit nach den in der Bundesrepublik geläufigen Kategorien als „Friedensbewegung in der DDR“ vereinnahmen zu lassen. Die kirchlichen Friedenskräfte in der DDR wollten vielmehr als eigenständig respektiert werden. Sie konnten nach den ganz anderen Rahmenbedingungen der DDR innerstaatlich und nach außen nur begrenzt tätig werden. Das schließt die Gleichheit von Positionen einzelner Initiativen diesseits und jenseits der Grenzen und Kooperationen über die Grenzen nicht aus, soweit die Gemeinsamkeiten und praktischen Möglichkeiten reichten. Die intensive Interaktion zu Friedensfragen der Theologischen Studienabteilung beim BEK, der ASF und der Gustav-Heinemann-Initiative ist ein fruchtbares Beispiel dafür. Davon zeugen z.B. Publikationen zu Sicherheitspartnerschaft und Frieden in Europa sowie zum Konzept des Gradualismus, die in der Studienabteilung erarbeitet und für die BRD von der ASF veröffentlicht wurden.[62] Freiwillige der ASF nahmen – vermittelt durch ihre Schwesterorganisation Aktion Sühnezeichen (ASZ) in der DDR – an gemeindlichen Veranstaltungen der Friedensdekaden teil. Joachim Garstecki, Referent für Friedensfragen in der Theologischen Studienabteilung des BEK, begründete die „Eigenständigkeit“ der kirchlichen Friedensarbeit so: „Die in den Äußerungen des DDR-Kirchenbundes und der Landeskirchen häufig anzutreffende Betonung der Eigenständigkeit der Kirchen in der Friedenfrage entsprang nicht irgendeiner Hybris, sondern der Freiheit ihres christlichen Glaubens. Kirchliches Eintreten für den Frieden musste grundsätzlich frei sein und frei bleiben von politischer Inanspruchnahme durch den Staat, weil es allein dem ‚Evangelium des Friedens’ (Eph 6,15) verpflichtet war. Es ging um Friedenszeugnis und Friedensdienst der Kirchen und Christen unter den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der DDR und nicht um ein beliebiges politisches Engagement.“[63] Der Erfurter Propst Falcke sagte in seiner Ansprache bei der Demonstration am 22. Oktober 1983 in Bonn zu den westdeutschen Teilnehmenden: „Viele Christen erleben heute, dass der Friede, den Christus gebracht und verkündet hat, immer stärker, unwiderstehlicher und direkter zu uns spricht. Er verbündet sich heute mit der friedenspolitischen Vernunft der Einsichtigen und führt uns Christen in die Zusammenarbeit mit Nichtchristen am Frieden. Für uns Christen in der DDR kommt es darauf an, dass wir uns dabei vom Frieden Christi leiten und uns in unserer Friedensarbeit von niemandem zur politischen Waffe gegen irgendjemand machen lassen.“[64]

Die friedensethischen Wege der Kirchen in der BRD und der DDR trennten sich ab 1962, als dort die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde. Die Kirchen in der DDR kamen zu dem Ergebnis, dass die nach den Heidelberger Thesen von 1959 möglichen Handlungsweisen – Waffendienst oder Waffenverzicht – nicht auf die Situation der jungen Männer in der DDR zuträfen. Viele von ihnen verweigerten den Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) in der Form des waffenlosen Bausoldatendienstes oder verweigerten auch diesen. Die Kirchen setzten sich für einen zivilen Ersatzdienst ein. Schließlich richtete die Regierung der DDR 1964 für Wehrpflichtige, „die aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen“, mit der „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung “[65] einen waffenlosen Dienst innerhalb der NVA ein. Das war nicht der zivile Ersatzdienst, wie er in der BRD eingeführt worden war.[66] Als Reaktion auf die Anordnung gaben die Kirchenleitungen im November 1965 die Orientierungshilfe „Zum Friedensdienst der Kirche: Eine Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“ an die evangelische Pfarrerschaft in der DDR heraus. Die Orientierungshilfe erklärt, die Verweigerung des Waffendienstes durch junge Christen in Gestalt des Bausoldatendienstes oder der Totalverweigerung sei „ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit des Christen von den politischen Zwängen. Es bezeugt den wirklichen und wirksamen Friedensbund Gottes mitten unter uns.“[67]

Das bedeutete einen Bruch mit den Heidelberger Thesen, die in These VII lediglich sagt: „Die Kirche muss den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen.“ In der DDR dagegen galt der Waffenverzicht als das „deutlichere Zeugnis“.[68] Das „deutlichere Zeugnis“ prägte auch die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR für die nächsten 25 Jahre „als friedensethische Messlatte, an der alle friedenspolitisch relevanten Vorgänge, Positionen und Äußerungen des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR und seiner Gliedkirchen gemessen wurden.“[69]

Die Linie der eigenständigen Entwicklung standen die Kirchen und Christen in der DDR „zwischen Anpassung und Verweigerung“[70] bis zur Wahl der Volkskammer am 18. März 1990 durch. Truppen des Warschauer Paktes schlugen im August 1968 den Prager „Frühling“ für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ unter Alexander Dubček nieder.[71] Einheiten der NVA kamen dabei nicht zum Einsatz. Unter anderem, weil der Bau der Mauer 1961 die Arbeit der EKD-Gremien sehr erschwert hatte und in der neuen Verfassung der DDR von 1968 über die Grenzen der DDR hinaus gehende Institutionen für illegal erklärt worden waren, also auch die EKD, ließ sich die enge Verbindung der acht DDR-Landeskirchen zur EKD nicht mehr halten. Sie gründeten deshalb 1969 den „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ (BEK). Der BEK musste seine Position in der Situation einer Minderheit neu bestimmen. Dazu hielt der Erfurter Propst Falcke bei der Dresdener Synode 1972 den Hauptvortrag unter dem Titel „Christus befreit – darum Kirche für andere“. Drei Themen handelte er darin ab: „Die Befreiung des Menschen durch Christus“, „Die Befreiung der Kirche zum Dienst“, „Die Kirche im Dienst der Befreiung“. Daraus abgeleitet, konkretisierte er die Position der Kirche: „Weder von Sozialisten noch von Antikommunisten können wir es uns nehmen lassen, unsere Gesellschaft im Licht der Christusverheißung zu verstehen. So werden wir frei von der Fixierung auf ein Selbstverständnis des Sozialismus, das nur noch ein pauschales Ja oder ein ebenso pauschales Nein zulässt. Christus befreit aus der lähmenden Alternative zwischen prinzipieller Antistellung und unkritischem Sichvereinnahmenlassen zu konkret unterscheidender Mitarbeit.“ „Der Sozialismus ist angetreten mit dem Protest und Kampf gegen das Elend des Menschen unter knechtenden Verhältnissen und mit dem Anspruch, alle Selbstentfremdung und Knechtschaft abzuschaffen und das Reich der Freiheit zu bringen. Kreuz und Auferstehung Christi machen uns kritisch gegen diesen übersteigerten Anspruch. Aber gerade der befreiende Christus, seine Solidarität mit den Leidenden, seine Verheißung der Freiheit nötigt uns, den sozialistischen Protest gegen das Elend der Menschen aufzunehmen und mitzuarbeiten an der Aufgabe, unmenschliche Verhältnisse zu wandeln, bessere Gerechtigkeit und Freiheit zu verwirklichen. So werden sich Christen überall engagieren, wo es gilt, die sozialistische Gesellschaft als gerechtere Form des Zusammenlebens aufzubauen und in ihren Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen dem Menschen zu dienen.“ „Diese Verheißung (des befreienden Christus – U.F.) trägt gerade auch da, wo die sozialistische Gesellschaft enttäuscht und das sozialistische Ziel entstellt oder unkenntlich macht.“ „Eben weil wir dem Sozialismus das Reich der Freiheit nicht abfordern müssen, treiben uns so