Folgen der Aussetzung der Wehrpflicht

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ In Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen festgeschrieben. Seit Einführung haben weit mehr als 2 Millionen deutsche Staatsbürger von ihrem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch gemacht. Doch wie hat sich die Auseinandersetzung mit dem Thema Wehrpflicht im Laufe der Jahre verändert, was hat die Aussetzung der Wehrpflicht in 2011 für Konsequenzen für die Friedens- und Gewissensbildung bei Jugendlichen? Diesen Fragen möchte der vorliegende Artikel nachgehen.

Genese des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung 

Mit Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 hat Deutschland als erster Staat der Welt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung festgeschrieben. Mit Schaffung der allgemeinen Wehrpflicht wurde 1961 als Konsequenz dazu die Möglichkeit eines Wehrersatzdienstes – in der Regel Zivildienstes – geschaffen. Die Wahrung seines Grundrechts war und ist bis heute für jeden Wehrpflichtigen sowie Soldatinnen und Soldaten mit einer formellen Anerkennung staatlicherseits und einer damit einhergehenden externen Gewissensprüfung verbunden. Für diese war bis 2011 das Bundesamt für den Zivildienst zuständig, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch über die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerungsanträge entschieden haben. Die grundsätzliche Frage, die sich hier stellt ist, ob eine Gewissensentscheidung überhaupt nachprüfbar ist.

Seit Jahrzehnten existiert das Verfahren der externen Gewissensprüfung und hat bis heute Bestand. Die Kriegsdienstverweigerung bezieht sich entgegen weitläufiger Meinungen nicht allein auf die Wehrpflicht, sondern bindet selbstverständlich und besonders auch die Berufs- und Zeitsoldaten sowie Reservisten mit ein. Insofern ist Kriegsdienstverweigerung auch nach der Aussetzung der Wehrpflicht ein wichtiges und bestehendes Thema, bei dem es mehr denn je um die Gewissensfrage geht. Der entscheidende Unterschied liegt in der allgemeinen Präsenz dieser Sachverhalte. Nicht selten wird hier davon ausgegangen, dass das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung seit Aussetzung der Wehrpflicht keine Relevanz mehr hat und es diese schlichtweg nicht mehr gibt.

Bis 2011 war die Gewissensfrage durch die Tatsache, dass die Wehrpflicht jeden männlichen deutschen Staatsbürger einschließt omnipräsent. Die Jugendlichen haben das Thema in ihr soziales Umfeld getragen. Sei es zum einen der familiäre Kontext, wo die Väter ihre eigene Gewissensentscheidung treffen mussten, an denen nicht selten die Mütter und Großeltern ihrerseits zumindest partiell Anteil hatten. Zum anderen waren der jeweilige Freundeskreis, Schulkameraden sowie die eigenen Freundinnen mal mehr mal weniger involviert.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach Juli 2011 

Auch nach Aussetzung der Wehrpflicht besteht weiterhin ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Deutschland. Bereits andere europäische Staaten haben sich für eine Freiwilligenarmee entschieden. Jedoch ist Deutschland eines der wenigen unter ihnen, das das Recht auf Kriegsdienstverweigerung beibehalten hat. Dies ist aus zwei Gründen förderlich. Zum einen bleibt die Wehrpflicht im Grundgesetz auch weiterhin verankert, so dass das Parlament mit einer einfachen Zwei-Drittel-Mehrheit den Wehrdienst wieder einführen könnte. Zum anderen darf nicht vergessen werden, dass Deutschland auch weiterhin über eine Bundeswehr verfügt in der rund 180.000 aktive Soldaten und Soldatinnen dienen. Die meisten von ihnen sind als Zeit- oder Berufssoldaten tätig. Für diese und für alle, die einmal gemustert worden sind, ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch heute noch unverzichtbar.

Gewissensbildung – Bedeutung damals und heute 

Zu Zeiten der Wehrpflicht betraf die Gewissensfrage für oder gegen den Dienst an der Waffe vor allem Jugendliche, die selber noch in der Findungs- und Entwicklungsphase waren. Die Themen Krieg und Konflikt waren bis dahin für viele ausschließlich Bestandteil im Schulunterricht, hat aber die meisten nicht privat tangiert. Gerade diejenigen, die sich für die Kriegsdienstverweigerung entschieden haben, waren plötzlich gezwungen eine schriftliche Darlegung der Gründe vorzunehmen, was bei vielen große innere Konflikte ausgelöst hat. Seit Jahrzehnten haben sich Strukturen zur Beratung gebildet. Einerseits staatlich und konfessionell unabhängig und andererseits im kirchlichen Bereich.

Im kirchlichen Bereich hat die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) den Auftrag. Sie berät und begleitet Soldatinnen und Soldaten vor, während und nach der Antragstellung. Die Gewissensfrage steht hier an oberster Stelle. Wie diese aussieht ist sehr individuell; zum einen kann der Kern darin liegen, ob die Arbeit an und mit der Waffe dem Frieden entgegensteht oder ihn vielleicht auch fördert. Zum anderen kann der Schwerpunkt aber auch auf der Frage liegen, ob man im Zweifel mit der Waffe einen anderen Menschen töten kann. Letztere ist essentiell für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, denn das Grundgesetz sieht eine Anerkennung ausschließlich aus diesem einen Grund vor.

Auseinandersetzung mit dem Frieden und der Gewissensfrage im Wandel

Seit Aussetzung der Wehrpflicht ist die Auseinandersetzung mit der Gewissensfrage nicht mehr unweigerlich in der Biographie eines jeden jungen Mannes verankert. Damit erlischt die Präsenz dieser Frage langsam bei den jungen Männern und ebenso in deren sozialem Umfeld. Auch aus dem alltäglichen sichtbaren öffentlichen Leben sind die Wehrpflichtigen verschwunden. Pendelten früher an den Frei- und Sonntagen etliche Wehrdienstleistende mit Bus und Bahn zwischen ihren Kasernen und der Heimat, so sieht man heute nur noch selten einen jungen Soldaten in der Öffentlichkeit. Die Präsenz der Wehrpflicht und damit verbunden die Gewissensfrage, scheinen sich sukzessive aus der Mitte der Gesellschaft zurück zu ziehen.

Parallel zum Verschwinden der Wehrpflichtigen aus dem sozialen Umfeld der Familie und der Öffentlichkeit, ist ein stärkerer Auftritt der Bundeswehr in der breiten Öffentlichkeit zu bemerken. Radio- und Fernsehwerbung für die Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber mit einem sicheren Arbeitsplatz und guten Karrieremöglichkeiten, werden gezielt in die breite Öffentlichkeit getragen und dort auch wahrgenommen. Hinzu kommt, dass die Bundeswehr seit 2008, ihren ohnehin gegebenen Zugang zu Schulen, durch Kooperationsvereinbarungen mit den Kultusministerien zu festigen scheint. Die Aufgabe der Jugendoffiziere besteht darin, das Verständnis für das komplexe Gebiet der Sicherheitspolitik bei den Jugendlichen zu fördern. Anwerbung von jugendlichem Nachwuchs für die Arbeit in der Bundeswehr gehört nicht zu ihren Aufgaben in der Schule.

Es ist nicht zu verleugnen, dass die Jugendoffiziere allesamt eine sehr gute Ausbildung genossen haben, ihren Aufgaben gut nachkommen und in Uniform im Klassenzimmer die Bandbreite der Tätigkeiten, bis hin zum Dienst an der Waffe darstellen. Das eventuell damit verbundene Töten eines Menschen wird bei den Vorträgen und Veranstaltungen nicht in den Vordergrund gestellt. Dennoch hinterlässt der Auftritt der Jugendoffiziere bei den Jugendlichen einen bleibenden Eindruck und kann bei ihnen zu einer vorschnellen Entscheidung für den Soldatenberuf führen.

Die Gewissensfrage unter anderen Vorzeichen 

Entschied man sich früher für oder gegen den Dienst an der Waffe, so war diese Entscheidung den Jugendlichen von außen vorgegeben. Damit stellte der verpflichtende Wehrdienst oder Wehrersatzdienst nicht selten ein Hindernis in der persönlichen Lebensplanung dar. Dies setze zwangsläufig eine intensive Auseinandersetzung mit der Gewissensfrage voraus. Denn es galt sich zwischen dem Dienst an der Waffe bei der Bundeswehr oder einem Wehrersatzdienst zu entscheiden. Es lagen also eine Zwangssituation und damit Pushfaktoren vor.

Auch heute entscheiden sich Jugendliche für den Dienst an der Waffe. Grundsätzlich soll dies erst einmal nicht verwerflich sein. Jedoch ist immer häufiger festzustellen, dass sich die Jugendlichen nicht in der Tiefe die Gedanken über die Tragweite und Konsequenz des Soldatenberufs zu machen scheinen, wie sie es noch vor 2011 machen mussten. Häufig stehen ein langfristig gesicherter Arbeitsplatz, gute Karrierechancen, das bezahlte Studium oder die Ausbildung im Vordergrund für die Entscheidung, den Beruf des Soldaten anzutreten.

Zwar wird darauf hingewiesen, dass zum Berufsalltag auch der Dienst an der Waffe gehört, jedoch scheint unter den monetären Pullfaktoren, eine Auseinandersetzung mit der Tragweite des Dienstes an der Waffe und damit mit der Gewissensfrage zu verflachen, beziehungsweise erst viel später einzusetzen. Bei der späten Erkenntnis, dass die Ausübung des Dienstes an der Waffe gegen das eigene Gewissen verstößt, bleibt ausschließlich der Kriegsdienstverweigerungsantrag und damit verbunden oftmals die Frage nach der finanziellen Existenz, da unter anderem Regressanforderungen gestellt werden können.

Die Gewissensfrage stellt sich jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der Entscheidung für oder gegen den Einstieg in die Bundeswehr. Hinter der Frage verbergen sich das individuelle Verständnis über Frieden und Gewalt und damit u.a. dem persönlichem Miteinander in unserer Gesellschaft, was ihr eine hohe Relevanz zuweist. Damit die Gewissensfrage nicht weiter aus der Mitte der Gesellschaft heraus gedrängt wird, bedarf es der Sensibilisierung für die Thematik. Jugendlichen muss die Möglichkeit gegeben werden sich eine individuelle Meinung zu Frieden, Gewalt und Konfliktbearbeitung bilden zu können. Dazu benötigen sie die Darstellung verschiedener Positionen und Ansichten. Die Stärkung von Friedensbildung an Schulen kann eine Möglichkeit sein an dieser Stelle fördernd einzugreifen.

Zusammenfassend 

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist auch nach Aussetzung der Wehrpflicht nicht obsolet geworden und es ist empfehlenswert, die Beratungsstrukturen für aktive Soldaten und Soldatinnen, Reservisten und für den Fall der Wiedereinführung der Wehrpflicht, beizubehalten. Mit Aussetzung der Wehrpflicht verschwindet die zwangsläufige Auseinandersetzung mit der Gewissensfrage aus den Biographien der jungen Männer und damit auch aus deren sozialem Umfeld und der Öffentlichkeit. Gleichzeitig scheint es eine stärkere Präsenz der Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber in der breiten Öffentlichkeit zu geben. Im Schulunterricht und in der öffentlichen Wahrnehmung sind Kriege und Konflikte, nicht jedoch Frieden, die vorgegeben Themen. Auf dieser Grundlage können sich Jugendliche kaum eine umfassende Meinung zu Frieden und Gewalt bilden.