Eklatante Verletzung der Rechte von Kriegsdienstver-weigerern und Friedensaktivisten
Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), War Resisters’ International (WRI), der Internationale Versöhnungsbund (IFOR) und Connection e.V. sind sehr besorgt über die anhaltenden Schikanen gegen Friedensaktivisten und Kriegsdienstverweigerer, einschließlich willkürlicher Verfolgungen und ungerechter Urteile, sowie über die unangemessenen Bestimmungen des neuen Mobilisierungsgesetzes Nr. 10378 vom 25.12.2023, das von der ukrainischen Armee vorgelegt wurde. Alle Anklagen gegen Friedensaktivisten und Kriegsdienstverweigerer müssen zurückgenommen werden. Die Inhaftierten sind sofort und bedingungslos freizulassen, da es sich eindeutig um Gewissensgefangene handelt. Darüber hinaus sollte das neue Gesetz über die Militärdienstpflicht Bestimmungen zur vollen Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung enthalten.
Die vier Organisationen fordern die Europäische Union (EU) auf, dafür zu sorgen, dass die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, das in Zeiten des durch die russische Aggression verursachten nationalen Notstandes einen wichtigen Schutz der demokratischen Werte und Grundsätze darstellt, bei den anstehenden Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine zur EU als notwendige Bedingung angesehen wird. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird unter anderem in der EU-Charta der Grundrechte (Artikel 10 - Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) anerkannt.
Die folgenden fünf Fälle zeigen, dass die Ukraine nicht davor zurückschreckt, selbst die offensichtlichsten Kriegsdienstverweigerer zu verfolgen und zu drakonischen Haftstrafen zu verurteilen:
- Der Siebenten-Tags-Adventist und Kriegsdienstverweigerer Dmytro Zelinsky verbüßt derzeit eine dreijährige Haftstrafe. Der 45-Jährige wurde im Juni 2023 freigesprochen, doch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Am 28. August 2023 hob das Berufungsgericht in Ternopil den Freispruch auf. Es gab dem Antrag des Staatsanwalts Roman Harmatiuk statt und verurteilte Zelinsky zu einer dreijährigen Haftstrafe, die sofort in Kraft trat. Zelinsky bereitet ein Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof in Kiew vor.1
- Der christliche Kriegsdienstverweigerer Andrii Vyshnevetsky dient trotz seiner erklärten Kriegsdienstverweigerung und seines Antrags auf Entlassung weiterhin in einer Fronteinheit der ukrainischen Streitkräfte. Er reichte Klage ein, in der er den Obersten Gerichtshof aufforderte, Präsident Zelensky anzuweisen, ein Verfahren für die Entlassung aus dem Militärdienst aufzunehmen. Am 25. September 2023 wies der Oberste Gerichtshof diese Klage ab. Die Ukrainische Pazifistische Bewegung hat bei der Großen Kammer des Obersten Gerichtshofs Berufung eingelegt. Die Verkündung des endgültigen Urteils wird für den 25. Januar 2024 erwartet.
- In einem vom Obersten Gerichtshof am 13. Dezember 2023 angeordneten Wiederaufnahmeverfahren verurteilte das Stadtgericht von Iwano-Frankiwsk den protestantischen Christen und Kriegsdienstverweigerer Vitaly Alekseyenko zu einer dreijährigen Haftstrafe (auf ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt), die die ursprüngliche Strafe von einem Jahr Haft ersetzt, von der er zwischen seiner ersten Verurteilung und der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Mai 2023 drei Monate verbüßt hatte.2 Mehrere internationale Anträge auf eine Übertragung des Prozesses im Internet wurden ignoriert. Vitaly wird Berufung einlegen und Freispruch beantragen.
- Der christliche Pazifist Mykhailo Yavorsky wurde am 6. April 2023 vom Stadtgericht Iwano-Frankiwsk zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er sich am 25. Juli 2022 aus religiösen Gründen der Einberufung zum Militär verweigert hatte.3 Er legte Berufung beim Berufungsgericht Iwano-Frankiwsk ein, das am 2. Oktober das Urteil von einer einjährigen Haftstrafe in eine dreijährige Bewährungsstrafe mit einem Jahr Bewährung umwandelte. Obwohl die Gerichte der ersten und der Berufungsinstanz feststellten, dass Yaworsky tiefe und aufrichtige religiöse Überzeugungen vertrat, die mit dem Militärdienst unvereinbar sind, was nach Artikel 35 der ukrainischen Verfassung zur Befreiung vom Militärdienst hätte führen müssen, wurde dies nur als mildernder Umstand gewertet. Yaworsky bereitet nun eine Kassationsbeschwerde beim Obersten Gerichtshof vor.
- Gegen den Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, Yurii Sheliazhenko, wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eingeleitet, die russische Aggression zu rechtfertigen; eine Straftat, die mit bis zu fünf Jahren Gefängnis und der Möglichkeit der Beschlagnahme von Eigentum geahndet wird. Ironischerweise stützt sich dies auf eine von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung am 21. September 2022 verabschiedete Erklärung "Friedensagenda für die Ukraine und die Welt", die die Verurteilung der russischen Invasion durch die UN-Generalversammlung ausdrücklich unterstützt.4 Sheliazhenkos Wohnung wurde am 3. August 2023 durchsucht. Sein Computer und sein Smartphone wurden beschlagnahmt; diese wurden trotz einer Anordnung des Gerichts in Solomiansky nicht zurückgegeben. Am 15. August wurde er unter nächtlichen Hausarrest gestellt, der anschließend bis zum 31. Dezember verlängert wurde; eine weitere Verlängerung bis zum 3. Februar 2024 ist vorgesehen. Jüngste Dokumente, die im Rahmen der Ermittlungen veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass Sheliazhenko wegen Behinderung "legaler" Aktivitäten der ukrainischen Streitkräfte angeklagt werden könnte, weil er für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung eintritt. Derartige Anschuldigungen könnten strengere Einschränkungen und härtere Strafen nach sich ziehen, nämlich eine Freiheitsstrafe von 5 bis 8 Jahren. Es sei darauf hingewiesen, dass die Ukraine die Resolution 51/6 des Menschenrechtsrates vom 2. Oktober 2022 über Kriegsdienstverweigerung mitgetragen hat, in der die Staaten unter anderem aufgefordert werden, "die Meinungsfreiheit derjenigen zu schützen, die für die Kriegsdienstverweigerung eintreten".
Die Organisationen fordern die Ukraine auf, die Aussetzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung unverzüglich rückgängig zu machen, den aus Gewissensgründen inhaftierten Dmytro Zelinsky freizulassen, Andrii Vyshnevetsky ehrenhaft zu entlassen, Vitaly Alekseenko und Mykhailo Yavorsky freizusprechen und die Anklage gegen Yurii Sheliazhenko fallen zu lassen. Sie fordern die Ukraine außerdem auf, das Ausreiseverbot für alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren und andere Praktiken zur Durchsetzung der Militärdienstpflicht aufzuheben, die mit den Menschenrechtsverpflichtungen der Ukraine unvereinbar sind, einschließlich der willkürlichen Inhaftierung von Militärdienstpflichtigen und der Auferlegung der militärischen Registrierung als Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit jeglicher ziviler Beziehungen wie Ausbildung, Beschäftigung, Heirat, Sozialversicherung, Registrierung des Wohnorts usw. Die Organisationen sind sehr besorgt über das Mobilisierungsgesetz Nr. 10378 vom 25.12.2023, das schwere Strafen für "Militärdienstentzieher" vorsieht, ohne Ausnahmen für Kriegsdienstverweigerer.
Die Organisationen fordern Russland auf, unverzüglich und bedingungslos alle Hunderte von Soldaten und mobilisierten Zivilisten freizulassen, die sich weigern, am Krieg teilzunehmen, und die illegal in einer Reihe von Zentren in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine festgehalten werden. Berichten zufolge setzen die russischen Behörden Drohungen, psychologischen Missbrauch und Folter ein, um die Inhaftierten zur Rückkehr an die Front zu zwingen.
Die Organisationen fordern sowohl Russland als auch die Ukraine auf, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu schützen, gerade auch in Kriegszeiten, und dabei die europäischen und internationalen Standards, unter anderem die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, vollständig einzuhalten. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist Teil des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte garantiert wird und das gemäß Artikel 4 Absatz 2 des Pakts auch in Zeiten des öffentlichen Notstands unantastbar ist.
Die Organisationen verurteilen die russische Invasion in der Ukraine aufs Schärfste und rufen alle Soldaten auf, sich nicht an den Feindseligkeiten zu beteiligen, und alle Rekruten, den Militärdienst zu verweigern. Sie verurteilen alle Fälle von Zwangsrekrutierung und gewaltsamer Rekrutierung in den Armeen beider Seiten sowie alle Fälle von Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und gewaltlosen Kriegsgegner*innen. Sie fordern die EU auf, sich für den Frieden einzusetzen, in Diplomatie und Verhandlungen zu investieren, den Schutz der Menschenrechte einzufordern und den Kriegsgegner*innen Asyl und Visa zu gewähren.