"Ein Autokrat wie Erdogan erträgt das nicht"

Göttingen (epd). Die Brandwunden bedecken Brust, Bauch, Hals und den linken Arm von Mohammad. "Hier sieht man es noch deutlicher", sagt Ali und scrollt auf seinem Handy zu einem anderen Bild. Der 12-jährige Junge sei am Donnerstag im syrischen Kurdengebiet verletzt worden: "Bei einem türkischen Angriff. Wahrscheinlich mit Napalm oder so."

Ali, 39, stammt selbst aus der Region, die das türkische Militär seit fast zwei Wochen mit einem Angriffskrieg überzieht. Seit 1999 lebt er in der Bundesrepublik. Er hat zwei Kinder, die deutsche Staatsangehörigkeit und einen Job in einem Göttinger Friseursalon, den ein Jeside aus dem Irak betreibt.

Zurzeit hängt Ali in jeder freien Minute am Handy oder im Internet. Er telefoniert mit Verwandten und Freunden in Rojava, wie die Kurden ihr bislang faktisch autonomes Gebiet in Nordost-Syrien nennen. Und er verfolgt die Berichte kurdischer Medien wie den Fernsehsender "Rudaw" ("Ereignis") aus Erbil, die rund um die Uhr Reportagen, Videos und Fotos von den Kampfschauplätzen senden.

Das nächste Foto auf Alis Handy soll Sara zeigen, die kleine Schwester von Mohammad. Sie liegt unter einer bis zum Bauch hochgezogenen bunten Decke. Sara habe durch türkischen Artillerie-Beschuss beide Beine verloren, übersetzt Ali die kurdische Bildunterschrift. Propaganda?

"Nein", sagt Ali. "Es herrscht Krieg, es gibt viele Flüchtlinge, viele Tote, viele Verletzte, vor allem Zivilisten." Am Mittwoch seien aus der Türkei abgefeuerte Geschosse in unmittelbarer Umgebung seines Heimatdorfes nahe der Stadt al-Hasaka eingeschlagen. Mehrere Häuser wurden beschädigt, einige Bewohner verwundet. "Zum Glück gab es dieses Mal keine Toten."

"Kritisch" nennt Ali die medizinische Versorgung in der Kriegsregion. "Ärzte ohne Grenzen" und andere Hilfsorganisationen haben ihre Mitarbeiter vor Ort abgezogen - zu gefährlich. Die Kurdische Autonomieverwaltung im Irak schickt zwar Medikamente und medizinische Geräte, aber Transporte kommen oft nicht mehr durch. Erst gestern hat Ali mit einem kurdischen Mediziner in Syrien telefoniert. "Er hat gesagt, es gibt so viele Verwundete, dass Medizin und Blutkonserven nur noch für zwei Wochen reichen."   

In Göttingen lebt eine Handvoll syrischer Kurden, die meisten kamen mit der großen Fluchtbewegung 2015 und 2016. Sie treffen sich fast jeden Tag, telefonieren, diskutieren. Und sehen mit Sorge, dass auch in der beschaulichen, von der Universität geprägten Stadt die Spannungen zwischen Türken und Kurden wachsen. "Viele Türken, die hier leben, stellen sich hinter Erdogan. Die reden so wie Erdogan. Die sind für den Krieg gegen die Kurden."

Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, da ist sich Ali ganz sicher, gehe es bei seinem Feldzug nicht nur darum, die Kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die er als Terroristen bezeichnet, aus dem Grenzgebiet zu verdrängen. "Er will unser Zusammenleben und auch unser Demokratiemodell zerstören."

Kurden und Araber, Jesiden sowie assyrische und aramäische Christen lebten in Rojava ohne große Konflikte in demokratischer Gemeinschaft. Frauen seien gleichberechtigt, alle hätten gemeinsam gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" gekämpft. "Ein Autokrat wie Erdogan erträgt das nicht", sagt Ali. "Er erträgt keine Demokratie in seiner Nähe und in seinem Einflussbereich."

Und dass die Kurden nun ein Zweckbündnis eingegangen sind mit einem anderen Diktator, dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad? Wäre der denn ein Verteidiger der Autonomie Rojavas? Nein, sagt Ali: "Aber die Kurden mussten das machen, obwohl sie das nicht wollten. Sie mussten sich entscheiden zwischen schlecht und schlechter. Sie haben sich für schlecht entschieden."