EBCO 2023: Fokus auf die Kriegsdienstverweigerer in Russland, der Ukraine und Weißrussland

Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung veröffentlicht heute seinen Jahresbericht 2022/23 zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Europa, der sowohl die Region des Europarates (Council of Europe = CoE) als auch Russland (ehemaliges CoE-Mitglied) und Weißrussland (CoE-Kandidatenstatus) abdeckt.

Insgesamt stand das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen im Jahr 2022 ganz oben auf der europäischen Agenda, was auf den anhaltenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die mutigen Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten zurückzuführen ist.

"Die Fortsetzung des Krieges steht für ein tragisches Versagen der Diplomatie und der Politiker und ist ein blutiger Sieg des Militarismus und der Kriegsprofiteure. Die militärische Mobilisierung und die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsgegnern stellt eine eklatante Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte dar, ebenso wie die unterschiedslosen europäischen Sanktionen gegen alle Russen, anstatt wenigstens den Kriegsgegnern Visa (Typ C und D) zu gewähren", erklärte EBCO-Präsidentin Alexia Tsouni heute.

Hoffnungen machen bemerkenswerte Anstrengungen für Frieden, auch rufen immer mehr inspirierende Stimmen zum Frieden auf (Stimmen für den Frieden aus der Zivilgesellschaft weltweit), u.a. im Rahmen der internationalen #ObjectWarCampaign (Russland, Belarus, Ukraine: Schutz und Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen), die gemeinsam vom Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), dem Internationalen Versöhnungsbund (IFOR), War Resisters' International (WRI) und Connection e.V. initiiert wurde.

Im Juni 2022 richteten 60 Organisationen aus 20 Ländern einen Appell an das Europäische Parlament, in dem sie darlegten, warum Schutz und Unterstützung für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer auf allen Seiten des Ukraine-Krieges notwendig und richtig sind. Am 6. April 2022 hatte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, russische Soldaten zur Desertion aufgerufen und ihnen Schutz nach dem Flüchtlingsrecht versprochen. Dieses Versprechen wurde bis heute nicht eingelöst. Im Rahmen der #ObjectWarCampaign wurde eine Petition vorbereitet, die jeder unterschreiben kann und die an die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, den Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola gerichtet ist. Die Petition unterstreicht die Notwendigkeit, das Recht auf Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Russland, Weißrussland und der Ukraine durch die Aufnahmestaaten zu wahren.

EBCO verurteilt die russische Invasion in der Ukraine scharf und ruft alle Soldaten auf, sich nicht an den Feindseligkeiten zu beteiligen, und ermutigt alle Rekruten, den Militärdienst zu verweigern. EBCO verurteilt alle Fälle von Zwangs- und gewaltsamer Rekrutierung für die Armeen beider Seiten sowie jede Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und all derer, die gewaltfrei gegen den Krieg protestieren. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist Teil des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) garantiert ist und das auch in Zeiten des öffentlichen Notstands nicht angetastet werden darf, wie in Artikel 4 Absatz 2 des ICCPR festgelegt ist.

EBCO fordert Russland auf, unverzüglich und bedingungslos die mehrere Hundert Soldaten und mobilisierten Zivilisten freizulassen, die sich weigern, am Krieg teilzunehmen, und die unrechtmäßig in einer Reihe von Zentren in den von Russland kontrollierten Gebieten der Ukraine festgehalten werden. Berichten zufolge setzen die russischen Behörden Drohungen, psychologischen Missbrauch und Folter ein, um die Inhaftierten zur Rückkehr an die Front zu zwingen.

EBCO fordert die Ukraine auf, die Aussetzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung unverzüglich rückgängig zu machen, die christlichen Kriegsdienstverweigerer Vitaly Alekseenko (inhaftiert in der Strafkolonie Nr. 41 in Kolomyiska) und Andrej Vyshnevetzky (in einer Einheit der ukrainischen Armee an der Front festgehalten) freizulassen und ehrenhaft aus der Armee zu entlassen und alle Kriegsdienstverweigerer einschließlich der christlichen Pazifisten  Mykhailo Yavorsky und Hennadii Tomniuk freizusprechen. Die Ukraine sollte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen schützen, auch in Kriegszeiten, und dabei die europäischen und internationalen Standards, unter anderem die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte), vollständig einhalten.

In Europa ist die Wehrpflicht in 18 Staaten in Kraft, 16 davon sind Mitgliedstaaten des Europarats (CoE):  Armenien, Österreich, Aserbaidschan, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Georgien (Wiedereinführung 2017), Griechenland, Litauen (Wiedereinführung 2015), Moldawien, Norwegen, Russland (ehemaliges CoE-Mitglied), Schweden (Wiedereinführung 2018), Schweiz, Türkei, Ukraine (Wiedereinführung 2014) und Weißrussland (CoE-Kandidat).

Im Jahr 2022 war Europa in mehreren Staaten kein sicherer Ort für viele Kriegsdienstverweigerer, die mit Verfolgung, Verhaftungen, Prozessen vor Militärgerichten, Haftstrafen, Geldstrafen, Einschüchterungen, Angriffen, Morddrohungen und Diskriminierung konfrontiert waren. Zu diesen Ländern gehören Russland (wo derzeit Hunderte von Kriegsdienstverweigerern inhaftiert sind, weil sie sich weigern, am Krieg teilzunehmen), die Ukraine (wo derzeit ein Kriegsdienstverweigerer inhaftiert ist, einer in einer Militäreinheit an der Front festgehalten wird und einige weitere verurteilt und strafrechtlich verfolgt werden), Weißrussland, die Türkei (der einzige Mitgliedstaat des Europarats, der das Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch nicht anerkannt hat) und entsprechend der von der Türkei besetzte nördliche Teil Zyperns (die selbsternannte "Türkische Republik Nordzypern"), Aserbaidschan (wo es immer noch kein Gesetz über den Zivildienst gibt), sowie Armenien, Georgien, Griechenland, die Republik Zypern, Finnland, Österreich, die Schweiz, Estland und Litauen (in diesen Ländern ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkannt und es gibt ein Gesetz über den Zivildienst, aber das Gesetz und/oder die Praxis stehen immer noch nicht im Einklang mit den europäischen und internationalen Menschenrechtsstandards, was Rechtsverstöße und die Diskriminierung von Kriegsdienstverweigerern zur Folge hat).

Was das Mindestalter für die Wehrpflicht anbelangt, so werden die Staaten im Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten zwar aufgefordert, die Rekrutierung von Personen unter 18 Jahren zu beenden, eine beunruhigende Anzahl europäischer Staaten tut dies dennoch weiterhin. Schlimmer noch, einige Staaten verstoßen gegen die absoluten Verbote des Fakultativprotokolls, indem sie Soldaten unter 18 Jahren dem Risiko eines aktiven Einsatzes aussetzen oder die Anwerbung von Wehrpflichtigen vor ihrem achtzehnten Geburtstag erlauben.

Nicht zuletzt verzeichneten die Militärausgaben in Europa laut dem kürzlich veröffentlichten SIPRI-Bericht über Rüstungsausgaben  für 2022 im Jahresvergleich den stärksten Anstieg  seit mindestens 30 Jahren. Auch weltweit war der mit Abstand stärkste Ausgabenanstieg (+13 Prozent) in Europa zu verzeichnen, der zu einem großen Teil auf die russischen und ukrainischen Militärbudgets zurückzuführen ist. Die Militärausgaben der mittel- und westeuropäischen Staaten beliefen sich im Jahr 2022 auf 345 Milliarden Dollar. Real überstiegen dieRüstungsbudgets dieser Staaten zum ersten Mal die Ausgaben von 1989, als der Kalte Krieg zu Ende ging, und lagen um 30 Prozent höher als 2013. Mehrere Staaten haben ihre Militärausgaben nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine im Februar 2022 deutlich erhöht, andere kündigten an, die Ausgaben über Zeiträume von bis zu einem Jahrzehnt zu erhöhen. EBCO drängt auf eine Senkung der Militärbudgets und eine Erhöhung der Sozialausgaben sowie darauf, Bürgern mit Gewissensbedenken die Möglichkeit einer Erklärung zu geben, dass kein Teil der von ihnen persönlich gezahlten Steuern für Militärausgaben verwendet werden soll.

Link zum vollständigen Bericht: https://ebco-beoc.org/node/565