"Zeit zum Zuhören"

Bremen (epd). Kein Mucks, gespannte Stille im Kaminsaal des Bremer Rathauses. Jetzt leuchtet die Kerze, aus Sicherheitsgründen ein LED-Licht. Das ist das Zeichen: Buhari Lehbib tritt an das Mikrofon des Rednerpultes. Der 18-jährige Mann mit familiären Wurzeln in der Westsahara macht den Eisbrecher, er ist der erste Sprecher eines Forums, das es so im Land Bremen noch nie gegeben hat. Es geht um „Zeit zum Zuhören“.

Das Forum im Rathaus ist die Premiere einer Veranstaltungsreihe, die das Bremer entwicklungspolitische Netzwerk ins Leben gerufen hat und mit der Gesprächsräume für Menschen geschaffen werden sollen, die in ihrem Alltag Diskriminierung und Rassismus erfahren haben. Rassismus sei allgegenwärtig, meint eingangs Imme Gerke, Mitinitiatorin der „Zeit zum Zuhören“ und professionelle Kulturmittlerin. „Und zwar physisch, geistig und strukturell“. Es gebe Menschen, „die jede Minute auf Angriffe gefasst sein müssen“.

Zum Auftakt soll drei Menschen Gehör verschafft werden, deren Stimme zu oft ignoriert und nicht gehört wird. Der Fokus bei den Teilnehmenden liegt dabei auf dem aktiven Zuhören. Im Mittelpunkt steht die erzählende Person mit ihren individuellen Erfahrungen - ohne Nachfragen, Unterbrechungen, Diskussionsrunden oder dergleichen. Imme Gerke gibt das symbolische Zeichen für das Zuhören, indem sie die Kerze einschaltet.

Buhari Lehbib sieht sich selbst als Privilegierten, weil seine Eltern kämpferisch sind und einflussreiche Freunde in der Politik haben. Und doch hat auch er Rassismus erlebt. Beispielsweise, als seiner Familie beim Umzug nach Bremen zunächst nur Unterkünfte in gigantischen Wohnblöcken angeboten wurden und nicht in der idyllischen Vorstadt, in die sie sich so sehr verliebt hatten. Ein Happy End habe es erst gegeben, nachdem sich ein einflussreicher Senatsrat eingeschaltet habe: „Plötzlich bekamen wir massenweise gute Angebote.“

Oder die Erfahrung, dass er als einziger Klassenbester nicht in den Förderkurs für Hochbegabte eingeladen wurde. Und die Rückmeldung von Lehrkräften, er sei ja noch ein Glückspilz, weil er zu den „guten Ausländern“ zähle. „In der Grundschule habe ich noch gedacht, ich bin selber schuld, später habe ich das hingenommen und aufgehört, über Noten zu feilschen“, beschreibt der junge Mann, wie es sich anfühlt, oft als fremd bewertet zu werden.

Freunde hätten erfahren, wie es sei, wenn man trotz aller Anstrengungen nicht das Gleiche erreichen könne wie die deutschen Mitschüler, ergänzt Lehbib, der demnächst zum Jura-Studium nach Berlin geht. „Rassismus steckt nicht in der Nische, nicht nur in den Köpfen von Skinheads und Nazis - wir sind alle aufgewachsen mit Vorurteilen“, ruft er in den Raum und bittet das Publikum: „Bitte denken Sie darüber nach.“ Das fange schon bei kleinen Dingen an, „beispielsweise bei der Entscheidung, nicht zuzuhören und nicht hinzusehen“.

Das genau wollen die Initiatoren des Forums ändern. Und versprechen sich davon viel: Nach dem Vorbild internationaler „Truth and Reconciliation“-Prozesse, der Wahrheitskommissionen beispielsweise in Südafrika, Ruanda, Kambodscha und Kanada, soll es in nächster Zeit weitere Treffen geben, die einen Perspektivwechsel und gesellschaftliche Verständigung ermöglichen sollen. „Das aktive Zuhören kann Friedensarbeit leisten und zur Versöhnung beitragen“, meint Christopher Duis vom Bremer entwicklungspolitischen Netzwerk.

Nach Buhari Lehbib berichten noch ein weiterer Sprecher und eine Sprecherin mit afrikanischen Wurzeln von ihren Erfahrungen mit Rassismus im Alltag. Ihren Mut, an das Mikrofon zu treten, quittiert das ansonsten schweigsame Publikum mit lautem Applaus. Auch mit Blick auf die noch folgenden Veranstaltungen sagt Virginie Kamche vom Afrika-Netzwerk in Bremen, sie wünsche sich, dass den Sprecherinnen und Sprechern mit Empathie begegnet werde, „und dass wir voneinander lernen und uns für Solidarität untereinander einsetzen“. Denn: „Rassismus betrifft uns alle, aber ein Teil der Gesellschaft leidet besonders.“