Wissenschaftler stoppten atomare Bewaffnung der Bundeswehr

Göttingen (epd). Am 12. April 1957 bringt die "Göttinger Erklärung" die kleine Universitätsstadt im Süden Niedersachsens weltweit in die Schlagzeilen. 18 hoch angesehene Physiker und Atomforscher wenden sich in dem Manifest vor 60 Jahren gegen eine Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen, unter ihnen einige Nobelpreisträger. Die Unterzeichner lehnen jede Mitarbeit an einer atomaren Bewaffnung ab, sprechen sich zugleich aber ausdrücklich für die friedliche Nutzung der Kernenergie aus.

Die seit Mitte der 1950er Jahre betriebene Ausstattung der US-Truppen mit taktischen Atomwaffen hat damals in der Bundesrepublik zu einer Diskussion über ähnliche Pläne für die neu gegründete Bundeswehr geführt. Entsprechende Befürchtungen verstärken sich durch die Ernennung von Franz-Josef Strauß (CSU) zum Verteidigungsminister. Ein Versuch der im "Arbeitskreis Kernphysik" zusammengeschlossenen westdeutschen Atomforscher, im Gespräch mit Strauß das Vorhaben zu verhindern, scheitert: Am 5. April 1957 stellt Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) taktische Atomwaffen lediglich als eine "Weiterentwicklung der Artillerie" und "besondere normale Waffen" dar. 

Auf Anregung Carl Friedrich von Weizsäckers verabschieden daraufhin zunächst 18 Wissenschaftler die "Göttinger Erklärung": "Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge", heißt es darin. Der Appell weist die verharmlosende Darstellung der Bundesregierung zurück und fordert eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren von Atomwaffen.

Zu den Unterzeichnern zählen die Nobelpreisträger Werner Heisenberg, Otto Hahn, Max Born und Max von Laue. Einige hatten bereits im "Uranverein" an den ersten Atombomben-Versuchen der Nationalsozialisten teilgenommen. Allerdings unterschreiben nicht alle führenden Kernforscher der Bundesrepublik: Einigen wie dem späteren SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Bechert geht der Aufruf nicht weit genug, andere befürchten persönliche oder berufliche Nachteile.

Der zunächst von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Süddeutschen Zeitung" und der "Welt" veröffentlichte Appell stößt auf ein gewaltiges Echo. Medien aus aller Welt drucken ihn nach, zitieren daraus und interviewen die beteiligten Forscher. Studentische und Akademiker-Organisationen schreiben ähnliche Aufrufe. Adenauer reagiert zunächst empört und weist die Einmischung der Wissenschaftler in die Politik zurück. Doch wegen des anhaltenden öffentlichen Druckes lenkt er schließlich ein. Die Bundesrepublik verzichtet auf Atomwaffen.

In Göttingen allerdings sind "Bürger und Kommunalpolitik auffallend stumm" geblieben, weiß der langjährige Stadtarchivar und Museumsleiter Ernst Böhme. "Weder Rat noch Verwaltungsausschuss nahmen Stellung. Es kam zu keinen Demonstrationen oder sonstigen öffentlichen Kundgebungen." Ähnlich wie 120 Jahre zuvor beim Protest der "Göttinger Sieben" gegen einen Verfassungsbruch durch König Ernst August I. wirkt die Stadt merkwürdig unberührt von einem universitären Protest, der ihren Namen überall in der Welt bekanntmacht.

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW hält die Göttinger Erklärung weiterhin für aktuell. "In der heutigen Situation, wo in den Medien offen über eine deutsche Atombombe diskutiert wird, könnten wir eine neue Göttinger Erklärung gut gebrauchen", sagt die IPPNW-Abrüstungsexpertin Xanthe Hall. Die Argumente gegen eine atomare Bewaffnung Deutschlands hätten sich nicht wesentlich geändert. Die Schlussfolgerung der 18 Wissenschaftler, dass Deutschland sich "am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet", stimme nach wie vor. 

Fast 130 Staaten setzen sich für eine weltweite Ächtung von Atomwaffen ein. "Deutsche Atomphysiker könnten mit einer Erklärung diese Initiative unterstützen", findet Hall. Kritisch am Appell von 1957 sieht sie das "Festklammern" an der zivilen Nutzung der Atomenergie. Ein neuer Aufruf müsse auch die Gefahren des "zivilen Arms der Atomindustrie" benennen. Und zu technischen Lösungen ermutigen, um den Rückbau der Atomanlagen sowie die dauerhafte Lagerung des Atommülls so sicher und so risikoarm wie möglich zu gestalten.