Wer zuerst schießt, stirbt als zweites

Marburg, Potsdam (epd). Als US-Präsident Richard Nixon und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR, Leonid Breschnew, am 26. Mai 1972 ihre Unterschriften unter ein Papier setzen, ist es eine doppelte Premiere. Es ist der erste Besuch eines US-Präsidenten in der sowjetischen Hauptstadt Moskau. Und der unterzeichnete SALT-I-Vertrag bringt erstmals eine Rüstungskontrolle der Supermächte im Kalten Krieg.

Bis zu SALT (Strategic Arms Limitation Talks) hatten die beiden Supermächte Atomsprengköpfe angehäuft, deren Zahl und Stärke ausgereicht hätten, die Erde 60 bis 70 Mal zu vernichten. Weitgehend unkontrolliert. Spätestens die Kubakrise 1962, als die USA und die UdSSR kurz vor einem Krieg standen, hatte Handlungsbedarf aufgezeigt. „Es ging darum, die Zukunft der Menschheit zu retten und ein unkontrolliertes Wettrüsten zu verhindern“, erklärt Manfred Görtemaker, emeritierter Historiker der Uni Potsdam und Experte für den Kalten Krieg.

Ein erster Schritt in diese Richtung war der Atomwaffensperrvertrag von 1968, der besagte, dass außer den bestehenden Atommächten kein weiteres Land Kernwaffen besitzen durfte. „Dieser Vertrag war verbunden mit der Zusage der USA und der Sowjetunion, dass sie ihre strategische Rüstung begrenzen“, sagt Görtemaker. „So wollten die beiden Mächte weitere Länder zur Unterschrift des Nichtverbreitungsvertrags bringen.“

Außerdem hatten sowohl die USA als auch die UdSSR ihre je eigenen Motive dafür, miteinander ins Gespräch zu kommen. „Die Sowjetunion wurde ab Ende der 1960er Jahre entspannungsbereiter“, erläutert Görtemaker. „Ihr Imperium wurde ja nicht durch Freundlichkeit zusammengehalten, sondern durch Repression.“ Um zu verhindern, dass dieses Imperium zusammenfällt, habe sie ihre Wirtschaft dringend stützen müssen. „Moskau erhoffte sich neben wirtschaftlicher Entlastung zugleich leichteren Zugang zu westlicher Technologie“, ergänzt Jan Lipinsky, Wissenschaftler beim Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg.

Die USA hingegen hätten unter anderem im Vietnamkrieg erlebt, dass sie ihre Kräfte überspannten, sagt Lipinsky: „Sie mussten erkennen, dass sie die globale Vorrangstellung verloren, und waren deshalb bereit, durch Verhandlungen mit der Sowjetunion und China zumindest die Großmachtstellung zu sichern.“ Denn spätestens ab Ende der 1960er Jahre hatte die UdSSR ein nukleares Patt erreicht, daran war nicht zu rütteln.

Im November 1969 begannen die Verhandlungen im finnischen Helsinki. Nach mehr als 130 Treffen in Helsinki und Wien stand schließlich das SALT-I-Abkommen, das aus zwei Verträgen bestand. Der Interimsvertrag fror die Zahl der Interkontinentalraketen ein, von denen beide Seiten mehr als 1.000 besaßen, ebenso wie die Zahl der von U-Booten startbaren Atomraketen.

Daneben gab es den ABM-Vertrag. Er verfügte, dass sowohl die USA als auch die UdSSR maximal zwei Raketenabwehr-, sogenannte ABM-Systeme (Anti Ballistic Missiles) besitzen durften. Ohne ein Abwehrschild wäre in einem Atomkrieg jede Seite auf jeden Fall auch vernichtet worden. So sollte verhindert werden, dass eine Seite versucht sein könnte, unter dem Schutz ihrer ABM-Systeme einen Erstschlag zu führen. Wer als erster schießt, stirbt mit absoluter Sicherheit als zweiter - dieses Gleichgewicht des Schreckens durch die gegenseitig zugesicherte Vernichtung (mutually assured destruction - MAD) sollte SALT I garantieren.

Das Abkommen betraf jedoch lediglich die Zahl der Trägersysteme für atomare Waffen, nicht die Zahl der Waffen selbst. Als Nixon und Breschnew in Moskau ihre Unterschriften unter das Dokument setzten, verfügten die USA aber bereits über Raketen, die mehrere Sprengköpfe ins Ziel bringen konnten, sogenannte MIRVs. Auch die UdSSR strebte nach solchen MIRVs. Diese Hintertür sollte SALT II schließen. Laut diesem Vertrag durften beide Supermächte je 2.250 Trägersysteme besitzen, davon höchstens 1.320 MIRV-Raketen, die wiederum maximal zehn Sprengköpfe tragen durften.

Obwohl US-Präsident Jimmy Carter und Breschnew den SALT-II-Vertrag im Juni 1979 unterschrieben, wurde er nie rechtskräftig. Denn ein knappes halbes Jahr später marschierte die UdSSR in Afghanistan ein. Damit war die Ära der Entspannungspolitik erst einmal vorbei. Der US-Senat ratifizierte SALT II nicht mehr.

Heute, da die Zeichen zwischen Ost und West wieder auf Konfrontation stehen, hält der SALT-Prozess einige Lehren bereit. Um eine Annäherung zu ermöglichen, brauche es eine „personelle Bereitschaft der Staatsspitzen, mit dem Gegenüber, auch direkt, zu verhandeln“, sagt der Historiker Lipinksy, „und zugleich das Vertrauen, dass die Gegenseite Abmachungen auch einhält und sich Regularien unterwirft“. Ein grundsätzliches wirtschaftliches Interesse beider Seiten an einer Rüstungskontrolle sei ebenfalls förderlich, und pragmatische, realistische kleine Einigungen seien einer globalen Gesamtlösung vorzuziehen.

Der SALT-Prozess zeige auch, dass eine berechenbare Machtpolitik durchaus friedensfördernd sein könne, erklärt Lipinskys Potsdamer Kollege Görtemaker: „Das sichert den Frieden mehr als Träumereien eines friedlichen Paradieses.“ Görtemakers Einschätzung nach ist die Welt nach SALT I sicherer gewesen, als sie es heute ist.

Hintergrund: Rüstungskontrollverträge und was aus ihnen wurde

Während des Kalten Kriegs schlossen die Konfliktparteien mehrere Verträge zur Kontrolle ihrer Rüstungsanstrengungen bei Kernwaffen. Die meisten davon gelten heute nicht mehr.

- 1972: SALT I: Das Interimsabkommen friert die Zahl der Interkontinental- und von U-Booten abfeuerbaren Atomraketen ein, der ABM-Vertrag begrenzt die Zahl der Raketenabwehrsysteme auf je zwei für die USA und die UdSSR. Das Interimsabkommen hat eine Laufzeit von fünf Jahren und läuft danach aus.

- 1979: Der SALT-II-Vertrag beschränkt die Zahl der Atomsprengköpfe. Obwohl er nie offiziell in Kraft tritt, halten sich sowohl die USA als auch die UdSSR an seine Bestimmungen.

- 1987: Die UdSSR und die USA schließen den INF-Vertrag (Intermediate Nuclear Forces). Er verbietet den Besitz von Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometern.

- 1990: 22 europäische Staaten unterzeichnen den KSE-Vertrag (Konventionelle Streitkräfte in Europa). Der Kontrakt legt fest, wie viele schwere Waffensysteme zwischen Atlantik und Ural stationiert sein dürfen.

- 1991: Der START-I-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) reduziert die Zahl der Atomsprengköpfe und ihrer Trägersysteme, die den USA und der Sowjetunion erlaubt sind, auf je 6.000 Sprengköpfe und 1.600 Träger.

Ein Zusatzprotokoll weitet den Vertrag auf die Nachfolgestaaten der UdSSR aus. Laut Budapester Memorandum von 1994 geben Belarus, Kasachstan und die Ukraine daher die Atomwaffen ab, die sie von der UdSSR geerbt haben. Im Gegenzug garantieren die USA, die Russland und Großbritannien Souveränität und territoriale Unversehrtheit dieser Nachfolgestaaten. Russland bricht 2014 das Budapester Memorandum mit der Annexion der Krim und der Unterstützung von Separatisten im Donbass.

- 1993 Russland und die USA unterzeichnen den START-II-Vertrag, der die Zahl der Atomwaffen weiter begrenzt. Die russische Duma ratifiziert den Vertrag aber nur unter der Bedingung, dass die USA im ABM-Vertrag verbleiben.

- 2002: Nach den Terroranschlägen von New York am 11. September 2001 wollen die USA eine Raketenabwehr aufbauen und kündigen den ABM-Vertrag. Damit ist auch START-II gegenstandslos.

- 2009: Ende Dezember läuft der START-I-Vertrag aus.

- 2010: Der New-START-Vertrag zwischen Russland und den USA reduziert die Sprengköpfe auf beiden Seiten auf je 1.550 und die Zahl der Trägersysteme auf je 800.

- 2019: Die USA beschuldigen Russland, Raketen zu entwickeln, die dem INF-Vertrag zuwiderlaufen. In der Folge kündigen sie diesen Kontrakt.