Weiße Geschichte

Speyer/Düsseldorf (epd). Ein Geschichtsbuch für die siebte bis neunte Klasse, Erscheinungsjahr 2007: Im Kapitel "Neuer Imperialismus und der Wettlauf um Afrika" über die Auswirkungen des Kolonialismus wird kein Wort darüber verloren, dass unzählige Menschen in den Kolonien starben. Am Ende wird den Schülerinnen und Schülern die Frage gestellt, ob der Kolonialismus ein Desaster oder vielleicht nicht doch auch ein Vorteil für den afrikanischen Kontinent war?

Kamady Fofana, Lehrer an der berufsbildenden Schule in Speyer, entsetzten solche Inhalte. Verwundern tun sie ihn jedoch nicht. Der 33-Jährige setzt sich für Rassismusprävention und -intervention an Bildungseinrichtungen ein. Ein Thema, das unweigerlich mit dem Kolonialismus zusammenhängt. 

Über den deutschen Beitrag zur Aufteilung der Welt unter den europäischen Großmächten herrsche viel Unwissen, sagt Fofana. Viele der aktuellen Debatten über Rassismus wären differenzierter, wenn die Menschen mehr über den Kolonialismus gelernt hätten. "Hinter dem Unverständnis vieler steckt kein böser Wille. Was man nicht weiß, kann man einfach nicht verstehen", sagt er. 

Dabei ist es nicht so, als stünde das Thema nicht in den Lehrplänen. Oftmals wird der deutsche Kolonialismus im Zusammenhang mit dem europäischen Imperialismus unterrichtet. In Rheinland-Pfalz liegt der Fokus auf dem Partnerland Ruanda, in Mecklenburg-Vorpommern ist die Kolonialpolitik in verschiedenen Jahrgangsstufen ein Wahlthema. Je nach Bundesland wird das Thema auch im Zusammenhang mit dem ersten Weltkrieg oder Menschenrechten behandelt. 

In Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg steht die Entkolonialisierung für bestimmte Klassen im Lehrplan. Die zuständigen Ministerien weisen auf Nachfrage darauf hin, dass die Lehrpläne oftmals keine festen Stundenzahlen vorschrieben und die Lehrerinnen und Lehrer beziehungsweise die Schulen bestimmte Freiräume hätten. 

Oberstudienrat Fofana sieht das Problem zum einen darin, dass in vielen Bundesländern den Fächern, in denen die Kolonialgeschichte unterrichtet werden könnte, nicht genug Zeit im Stundenplan eingeräumt werde. Zum anderen bereite das Studium Lehrerinnen und Lehrer nicht oder kaum auf den Umgang mit Rassismus und den Zusammenhang mit dem Kolonialismus vor. 

Alexandra Engelsdorfer, die sich am Marburger Zentrum für Konfliktforschung mit postkolonialen Theorien beschäftigt, sieht die Schwierigkeit auch in der Perspektive. "Es ist eine weiße Geschichte, die in den Schulen erzählt wird", sagt sie. In Deutschland sind die Kultusministerien der Länder, also die Ministerien für Bildung, Wissenschaft und Kultur, für die Lehrpläne verantwortlich. Alle amtierenden Landesminister und -ministerinnen in diesen Bereichen sind weiß. 

"Wer dekolonialisieren möchte, muss Privilegien aufgeben", sagt Engelsdorfer. Dies setze voraus, dass sich weiße Menschen eben dieser Privilegien bewusstwerden und sie reflektieren. "Das ist vielen unangenehm", sagt sie. Zudem stelle diese Auseinandersetzung Deutungshoheiten in Frage. Wenn also gängige Narrative über den Kolonialismus geändert werden sollen, müssen Menschen gefragt werden, "die nicht die vorherrschende weiße Perspektive haben", fordert sie. 

So sehen es auch die Aktivistinnen und Aktivisten der deutschlandweiten Bewegung #blackhistoryindeutschland. Zehntausende unterschrieben deren Petitionen und fordern eine Überarbeitung der Lehrpläne in allen Bundesländern, auch in NRW, ohne eurozentrische Perspektive und mit tieferen Diskussionen über die deutsche Kolonialgeschichte. People of Color, also Menschen, die nicht als weiß und deutsch wahrgenommen werden, und rassismuskritische Initiativen sollten in die Schulen eingeladen werden. Zudem müssten Quellen dieser Gruppen zum Unterrichtsmaterial gehören. 

Nach der Erfahrung von Lehrer Fofana sind es, wenn überhaupt, einzelne Kolleginnen und Kollegen, die sich in diesem Bereich besonders engagieren. Institutionalisiert seien die Bemühungen nicht. Der Mannheimer kann das nicht nachvollziehen. Der Kolonialismus habe nicht im Afrika des 20. Jahrhunderts geendet. Seine Auswirkungen beträfen noch heute alle People of Color. "Fragen der Diversität gehören gerade zu den größten Herausforderungen der Schulen. Da kann man das Thema nicht einfach ausklammern."

Das Interview im Wortlaut:

epd: Herr Fofana, was hat sie dazu bewegt, Workshops zur Rassismusprävention anzubieten?  

Kamady Fofana: Vor anderthalb Jahren hat mir ein Freund mit Wurzeln in Jamaica erzählt, dass seine Tochter im Kindergarten wegen ihrer Hautfarbe gehänselt wird. Als er die Kitaleitung darauf ansprach, sagte sie ihm, dass da nichts zu machen sei und seine Tochter das noch häufiger erleben wird. So etwas kann doch nicht sein. In einer vielfältigen Gesellschaft müssen Pädagoginnen und Pädagogen lernen, professioneller mit solchen Situationen umzugehen, da sie zum Berufsalltag gehören. Deshalb habe ich meine Initiative gestartet. 

 epd: Wie muss man sich einen Anti-Rassismus-Workshop vorstellen? 

Fofana: Meistens steige ich mit Ergebnissen der Leipziger Autoritarismus-Studie ein. Da zeige ich unter anderem, wie viele Menschen glauben, Deutsche seien Angehörigen anderer Nationalitäten überlegen. Dann gehe ich auf die Geschichte ein, also auf den Kolonialismus oder auf die Völkerschauen in der Weimarer Republik und darauf, dass auch Schwarze Deutsche in den KZs getötet wurden. Hauptsächlich geht es aber darum, wie die Geschichte unseren Blick auf die Welt prägt. Rassismus hat System, ist strukturell und geht nicht einfach weg. Das ist wichtig zu verstehen, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Vorurteile vermeiden und Rassismus richtig begegnen können. 

epd: Wie wird das Angebot angenommen?  

Fofana: Das Interesse ist groß, könnte aber noch größer sein. Das Problem ist, dass sich viele Lehrkräfte nicht eingestehen wollen, dass sie rassistische Einstellungen haben. Dabei ist das natürlich, so wachsen wir eben auf. Die Auseinandersetzung mit dem Thema ist sehr negativ besetzt. Wenn ein Schulkollegium ein Anti-Rassismus-Training macht, könnte es heißen: Warum müssen die das denn machen, haben die etwa ein Rassismusproblem? Meine Workshops sind da nur ein Tropfen auf den heißen Stein gegen jahrelange Sozialisation. Um solche Einstellungen nachhaltig zu verändern, bräuchte es eigentlich eine langfristige strategische Begleitung. Dafür sehe ich aber keinen Willen. 

Hintergrund:

Von 1884 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war das Deutsche Kaiserreich eine der größten europäischen Kolonialmächte. Einige Fakten zur deutschen Kolonialgeschichte:

Wann begann der deutsche Kolonialismus? 

Eingeläutet wurden ernsthafte deutsche Kolonialbestrebungen mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871. Ab da entstanden verschiedene Kolonialvereine, die sich mit dem Erwerb von Kolonien und mit Kolonialpropaganda beschäftigten. Im Winter 1884/1885 trafen sich in Berlin auf Einladung Bismarcks die Gesandten der überwiegend europäischen Großmächte zur sogenannten Kongo-Konferenz. Unter dem Vorsitz Deutschlands und Frankreichs verständigten sie sich dort über die Regeln für die koloniale Aufteilung des afrikanischen Kontinents. 

Welche Kolonien hatte das Deutsche Reich? 

Von 1884 bis zum Ende des Weltkrieges war das Deutsche Kaiserreich eine der größten europäischen Kolonialmächte. In dieser Zeit gehörten Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Kamerun und Togo als sogenannte Schutzgebiete zum Reich. Zwischen 1884 und 1885 "erwarben" deutsche Kolonialisten Neuguinea, heute der nördliche Teil Papua-Neuguineas und die Marshallinseln. Im Jahr 1885 kam Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, Burundi und Ruanda, dazu. 1888 besetzten die Deutschen die Insel Nauru und annektierten sie zum Protektorat der Marshallinseln. Zehn Jahre später wurde die Region Kiautschou im Osten Chinas unter kaiserlichen Schutz gestellt und glich somit rechtlich den anderen Kolonien. Ab 1899 gehörten die Inselgruppen Palau, Karolinen und Marianen in Mikronesien und die Samoainseln, heute Westsamoa, zum Deutschen Kaiserreich. 

Warum musste das Deutsche Reich seine Kolonien aufgeben? 

Der Erste Weltkrieg machte auch vor den Kolonien der europäischen Großmächte nicht halt. In den meisten kaiserlichen Schutzgebieten endeten die meisten Kampfhandlungen bereits zu Beginn des Krieges. Lediglich in Deutsch-Ostafrika kämpften deutsche Truppen noch bis November 1918 einen Guerillakrieg gegen die Alliierten. In den Pariser Friedensverhandlungen zeigten sich die Siegermächte unwillig, die Kolonien wieder zurückzugeben. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrag verzichtete Deutschland "zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen". Die ehemaligen Kolonien wurden zum Völkerbundmandat. Der Völkerbund wiederum übertrug die Mandatsmächte an Großbritannien, Frankreich, Südafrika, Belgien, Australien, Neuseeland und Japan. 

Welche Kolonialverbrechen begangen die Deutschen? 

Das wohl größte Verbrechen der Kolonialherren war der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Westafrika. Nach der Gründung der Kolonie kamen Tausende Siedler in das Land und vertrieben die indigenen Herero aus ihren Stammesgebieten. Im Jahr 1904 versuchten die Herero, sich gegen die Siedler zu wehren. Die Reichsleitung entsandte daraufhin rund 15.000 Soldaten unter Generalleutnant Lothar von Trotha. Nach der Schlacht am Waterberg im August 1904 flohen die überlebenden Herero in die Wüste Omaheke. Trotha ließ die Region abriegeln und befahl, die Geflüchteten von den weniges Wasserstellen zu verjagen. 

Auch die Aufstände der Nama wurden brutal niedergeschlagen. Im Anschluss an die Kämpfe wurden die Herero und Nama in Konzentrationslager interniert. Zehntausende verloren während der Auseinandersetzungen ihr Leben. Auch in Deutsch-Ostafrika wehrten sich die Bewohner gegen die deutsche Kolonialmacht. Im Maji-Maji-Krieg verbündeten sich einheimische Bevölkerungsgruppen über ethnische Grenzen hinweg gegen die Deutschen. Während der Kämpfe brannten die Kolonialtruppen Dörfer, Vorräte und Felder nieder. Schätzungsweise bis zu 300.000 Einheimische starben. Um die einheimische Bevölkerung als billige Arbeitskräfte nutzen zu können, wurde in vielen Kolonien eine Kopf- und Hüttensteuer eingeführt. Wer diese nicht entrichtete, wurde zu Zwangsarbeit verurteilt.