Vom Träumer zum Pazifisten

Worpswede (epd). Als vor 100 Jahren deutsche und alliierte Offiziere am 11. November 1918 einen Waffenstillstandsvertrag unterschrieben und damit den Ersten Weltkrieg beendeten, war Heinrich Vogeler schon nicht mehr an der Front. 1914 hatte er sich noch freiwillig für den Krieg gemeldet. Nun war der einst prominente Jugenstilkünstler wieder auf seinem Barkenhoff in Worpswede bei Bremen - unter Polizeiaufsicht. Der Krieg hatte ihn verändert: Aus dem Träumer und Romantiker, Liebling des Bürgertums, war ein glühender Pazifist geworden.

Viele prominente Künstler zogen voller patriotischer Gefühle in den Krieg, darunter Ernst Barlach, Oskar Kokoschka und Otto Dix. "Vogeler war in einer persönlichen Krise, privat und künstlerisch orientierungslos", sagt Beate C. Arnold, wissenschaftliche Leiterin der Barkenhoff-Stiftung in Worpswede. Als er am 1. September 1914 sein Gesuch um Aufnahme in den Militärdienst bei den Oldenburger Dragonern einreichte, sei dies in erster Linie eine Flucht aus dieser Situation gewesen.

"Alles, was ich schaffte, schien mir sinnlos geworden zu sein", notierte Vogeler (1872-1942) in seinen Erinnerungen. Seine Kunst war für ihn tot. Er beschrieb sie zu diesem Zeitpunkt als "blutleeres, abstraktes, vielleicht noch dekoratives Gespenst". Der einstige Maler der Harmonie, der seinen Barkenhoff als Gesamtkunstwerk und "Insel des Schönen" gestaltet hatte, hoffte auf innere Befreiung, als er in das Regiment aufgenommen wurde. Politisch habe er wie andere auch einen Verteidigungskrieg und die vermeintlich gerechte Sache gesehen, ergänzt Arnold.

1915 durchdrang Vogeler offensichtlich eine romantische Kriegsbegeisterung, als er seiner Frau Martha schrieb, der Krieg im Osten habe "noch etwas Ritterliches". In den Karpaten zeichnete er Motive, die in Deutschland mit der Mappe "Aus dem Osten" propagandistisch vermarktet wurden. Als Vorwort formulierte Vogeler: "Diese Zeichnungen sollen eine Erinnerung sein an das Land, durch das unser siegreicher Feldzug führte; ein Denkmal den tapferen Kameraden, die in den Karpathen, Galizien und Russland kämpften."

Anders als bei vielen seiner Malerkollegen, die den Krieg an der Front erlebten, fanden sich bei Vogeler keine Darstellungen infernalischer Kämpfe, eher das alltägliche Leben hinter den Schützengräben. "Die Zeichnungen waren harmlos", beschreibt es Vogeler-Expertin Arnold. 

Einen ersten Wendepunkt markiert dann 1916 "Das Elend des Krieges", eine Öl-Arbeit, die an das Motiv der Beweinung Christi erinnert. Als dann deutscher Eroberungsgeist die Verhandlungen zum Frieden von Brest-Litowsk bestimmte, war das Arnold zufolge für Vogeler ein weiterer großer Schritt Richtung Pazifismus. "Ihm ist klargeworden: In der Politik der Deutschen ging es um weitreichende Territorialgewinne."

Vogeler war nun überzeugt, dass "die Militärkaste gar nicht fürs Volk kämpfte, sondern für den Mehrbesitz der Reichen". Auf Heimaturlaub in Worpswede formulierte er aus radikalem Bekenntnis zur christlichen Nächstenliebe im Januar 1918 seinen berühmten Friedensappell an Kaiser Wilhelm II, den er wie ein Märchen schrieb. Darin steigt Gott auf die Erde und fordert vom Kaiser: "Sei Friedensfürst, setze Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens."

Vogeler war klar, dass ihn der Appell sein Leben kosten konnte. Doch ob der Kaiser den Brief tatsächlich in Händen hielt, ist nicht überliefert. Der Hamburger Germanist Bernd Stenzig, ausgewiesener Kenner der Worpsweder Kunstgeschichte, hält in seinem Buch über Vogelers Kaiserbrief aber fest, die Oberste Heeresleitung habe ihn gelesen. "Ludendorff befiehlt die sofortige Erschießung, lässt sich aber umstimmen."

Vogeler kam ins Irrenhaus, wurde mit einer manisch-depressiven Störung für kriegsuntauglich erklärt, als "staatlich geprüfter Geisteskranker" entlassen und unter Polizeiaufsicht gestellt. Aus dem Träumer war innerlich ein Sozialrevolutionär geworden, der sich 1918 mit seiner Radierung "Die sieben Schalen des Zorns" auch künstlerisch endgültig von der mystisch-überhöhten Romantik früherer Jahre abwandte. Als Sozialist, christlich geerdet, arbeitete er bis zu seinem Tod 1942 im sowjetischen Exil für seine Vision vom umfassenden Frieden: militärisch, sozial und persönlich.