UN warnen vor Taliban-Rache

Berlin (epd). Die Bundesregierung hat bekräftigt, dass sie neben den Ortskräften auch besonders gefährdete und schutzbedürftige Menschen aus Afghanistan aufnehmen will. Das Außen- und das Innenministerium versicherten am Freitag in Berlin, man werde im Einzelfall pragmatisch vorgehen. Flüchtlings- und Hilfsorganisationen drangen auf schnelles und entschiedenes Handeln. Pro Asyl forderte die Regierung auf, unverzüglich mit den Nachbarstaaten Afghanistans in Gespräche über die Übernahme zu erwartender Flüchtlinge einzutreten. Entwicklungshelfer riefen die Regierung in einem eindringlichen Appell auf, auch frühere Ortskräfte aufzunehmen. Unterdessen warnten die Vereinten Nationen vor Racheakten der Taliban.

Laut einem internen UN-Bericht suchen die Islamisten systematisch nach Gegnern und ihren Angehörigen, wie der britische Sender BBC am Freitag berichtete. Demnach überprüfen Taliban-Kämpfer auch die Identität von Afghaninnen und Afghanen, die auf dem Weg zum Flughafen sind. Gleichzeitig mehren sich Berichte, dass eine Reihe ehemaliger Regierungsmitarbeiter, die sich in der vergangenen Woche ergeben hatten, verschwunden oder in Taliban-Gefangenschaft sind.

Die Taliban hatten am Dienstag bei ihrer ersten Pressekonferenz seit der Machtübernahme eine umfassende Amnestie für alle Regierungsmitarbeiter und Armeeangehörige angekündigt. Sie hatten zudem versichert, dass sich ehemalige Ortskräfte der internationalen Streitkräfte nicht vor Angriffen fürchten müssten.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amts berichtete demgegenüber, es kämen immer mehr Hinweise auf Menschen, die sich in Gefahr befinden. Die Listen würden im Krisenstab der Bundesregierung zusammengeführt. Der stellvertretenden Regierungssprecherin Ulrike Demmer zufolge waren bis Freitagmittag rund 1.600 Menschen mit elf Flügen aus Kabul evakuiert worden. Ein deutscher Staatsbürger sei auf dem Weg zum Flughafen angeschossen worden, aber nicht lebensbedrohlich verletzt, sagte sie. Einzelheiten teilte sie nicht mit. Am und im Flughafen von Kabul sind in den vergangenen Tagen zahlreiche Menschen getötet und verletzt worden.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt verlangte, Schutzberechtigte mit Bezügen zu Deutschland, etwa durch Familienangehörige oder Arbeitsverhältnisse, müssten die Zusage bekommen, nach Deutschland geholt zu werden. Diese Zusage bräuchten auch die Nachbarländer Afghanistans, sagte Burkhardt. Er befürchtet, dass sie andernfalls ihre Grenzen schließen, um sich vor Flüchtlingen aus Afghanistan abzuschotten. Nach Angaben von Demmer gibt es bereits Gespräche zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Nachbarstaaten über Hilfe für Flüchtlinge aus Afghanistan. Von konkreten Zusagen über die Aufnahme von Schutzbedürftigen war aber nicht die Rede.

Pro Asyl warf der Bundesregierung angesichts der aktuellen dramatischen Lage „Totalversagen“ vor. Die Organisation habe den Ministerien bereits Ende April Vorschläge vorgelegt, wie Ortskräfte und ihre Familien aus Afghanistan geholt werden können. Burkhardt forderte, die bisherige „Engführung auf Kernfamilie und Arbeitsverträge“ zu beenden. Auch volljährige Kinder, Eltern von Ortskräften und Menschen, die über Subunternehmen für die Bundeswehr oder andere deutsche Institutionen gearbeitet haben, müssten aufgenommen werden.

Frühere und aktive Beschäftigte der deutschen Entwicklungshilfe in Afghanistan forderten in einem eindringlichen Appel an die Bundesregierung, auch ehemalige Ortskräfte aufzunehmen. Ihre Lage sei dramatisch, schrieben mehr als 80 Frauen und Männer in einem am Freitag veröffentlichten offenen Brief. Man sei sehr besorgt darüber, dass sich die derzeitigen Schutzmaßnahmen nur an Mitarbeiter richteten, die entweder aktuell für die deutsche Entwicklungshilfe arbeiten oder dies in den vergangenen zwei Jahren getan haben. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, von denen die meisten für die staatliche Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig sind oder waren, warnten, wenn Deutschland nicht handele, „nähme der Ruf der deutschen Entwicklungsarbeit in der Welt irreversiblen Schaden.“