UN-Beauftragte: Sexuelle Gewalt im Krieg bleibt meist ungesühnt

Frankfurt a.M./New York (epd). Vor zehn Jahren wurde erstmals eine UN-Beauftragte zu sexueller Gewalt in Konflikten eingesetzt. Die derzeitige Amtsinhaberin, die Frauenrechtlerin Pramila Patten (60) aus Mauritius, sieht seitdem deutliche Fortschritte, aber auch Lücken, vor allem in der Verfolgung von Straftätern. Um diese Lücken zu schließen, setzt die Bundesregierung das Thema auf die Tagesordnung des UN-Sicherheitsrats, in dem Deutschland im April den Vorsitz hat. 

epd: Frau Patten, wie weit ist sexuelle Gewalt in Konflikten verbreitet?

Patten: Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist Teil der Strategie in Konflikten. Sie wird eingesetzt, um den Gegner zu schwächen, um unerwünschte Gruppen zu vertreiben, um sich Land oder andere Ressourcen anzueignen. Sie wird in erheblichem Maße eingesetzt. Verlässliche Zahlen kann man aber kaum erhalten, weil die Dunkelziffer bei diesen Verbrechen enorm hoch ist. Außerdem sind viele Konfliktgebiete nicht erreichbar für humanitäre Helfer und Menschenrechtsbeobachter.

Der Jahresbericht meines Büros, den wir am 23. April dem UN-Sicherheitsrat vorstellen, umfasst 21 Länder weltweit. Ein Großteil der 68 Millionen Menschen, die laut UN vertrieben wurden und derzeit nicht in ihre Heimat zurück können, stammt aus diesen 21 Ländern. So haben Milizionäre im Südsudan Frauen und Mädchen vergewaltigt als Teil einer Kampagne, um Gegner aus dem südlichen Bundesstaat Unity State zu vertreiben. In der kongolesischen Provinz Tanganyika haben ethnische Milizen Mädchen, Frauen, Jungen und Männer anderer Volksgruppen vergewaltigt. In Syrien und Burundi werden Gefangene und politische Gegner gruppenvergewaltigt und sexuell gedemütigt. 

epd: Was sind die Hauptprobleme bei der Strafverfolgung der Täter?

Patten: Die Strafverfolgung ist insgesamt sehr gering, und das hat vielfältige Gründe. Nicht alle Opfer wollen oder können sich an das formelle Justizsystem wenden, in vielen Ländern sind die Gesetze unzulänglich oder sie werden nicht angewandt. Wir sind sehr besorgt darüber, dass die Verfolgung der Täter die Ausnahme bleibt und Straflosigkeit leider eher die Norm ist.

epd: Wieso erstatten Opfer häufig keine Anzeige?

Patten: Das Stigma, das der sexuellen Gewalt anhaftet, ist ein Grund. Vergewaltigung ist das einzige Verbrechen, für das die Gesellschaft eher das Opfer beschuldigt als daran geht, den Täter zu bestrafen. Das Stigma und die sexuelle Gewalt verstärken sich gegenseitig. Die Täter wissen, dass die Opfer nach dem Verbrechen im Stich gelassen werden. Sie werden von der Gesellschaft abgelehnt, von ihren Familien zurückgewiesen und aus ihren Gemeinden ausgestoßen. Sie wissen, dass Schweigen eine Option für die Überlebenden ist, um weiter zu überleben. Neben dem Stigma müssen die Opfer zudem Rache fürchten. Wie zeigt man einen Angehörigen staatlicher Sicherheitskräfte in einem Konflikt an?

epd: Gibt es auch ganz praktische Probleme, die eine Strafanzeige verhindern?

Patten: Ja, es fehlen sichere Wege für eine Anzeige. Wenn es überhaupt eine Polizeistation im Konfliktgebiet gibt, dann ist das keine wie in New York oder Berlin. Sollte ein Opfer eine Station erreichen können, hat der Polizist, selbst wenn er willens ist, die Anzeige aufzunehmen und weiß, wie es geht, keinen Stift und Papier. Die Frau muss also Stift und Papier stellen. Sie muss die ärztliche Untersuchung zahlen, sie muss den Transport des ärztlichen Berichts zur Polizei und dem Gericht organisieren. Und wenn der Fall vor Gericht kommt und sie sicherstellen will, dass es dort einen Richter gibt, muss sie für seinen Transport sorgen.

Dazu kommt, dass viele ihre Rechte und juristischen Möglichkeiten nicht kennen. Zudem misstrauen viele Menschen den Behörden und dem Justizsystem. 

epd: Und wie ist die Lage, wenn eine Anzeige gestellt und vor Gericht verhandelt wird?

Patten: Auch da gibt es viele strukturelle Probleme. In vielen Fällen sind die Gesetze ungenügend. Vergewaltigung oder andere Formen sexueller Gewalt werden nicht ausreichend definiert. In einigen Ländern gibt es Gesetze, die Frauen aktiv davon abhalten, Anzeige zu erstatten, weil sie befürchten müssen, selbst wegen Ehebruchs verurteilt zu werden. In anderen Ländern ist das Justizsystem komplett kollabiert, oder die Richter werden umgebracht.

Auch die Ermittlungen sind in vielen Ländern ein großes Problem. So braucht die Beweisaufnahme Ressourcen, Kompetenz und Koordination. Aber zuallererst braucht es politischen Willen, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen, und der fehlt leider oft, besonders wenn der Täter einer staatlichen bewaffneten Gruppe angehört.

epd: Was kann unter diesen schwierigen Bedingungen getan werden?

Patten: Mein Büro arbeitet daran, mobile Polizeistationen und Gerichte einzusetzen. Außerdem unterstützen wir die Mitgliedsstaaten mit einer Überarbeitung des Strafrechts und bei einem umfassenden Opfer- und Zeugenschutz. Wir trainieren Richter, Anwälte, Staatsanwälte und Polizisten in Ländern wie dem Kongo, Guinea, der Zentralafrikanischen Republik. Im Kontakt mit staatlichen und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen versuchen wir, dass sie sich Verhaltensregeln geben. Und zusammen mit weiteren UN-Organisationen arbeiten wir daran, dass es mehr qualifiziertes medizinisches Personal gibt, das sexuelle Gewalt feststellen und behandeln kann. Ärzte, Krankenschwestern und weiteres Gesundheitspersonal sind entscheidend für die Beweisführung.

Wichtig ist auch, dass sich Frauen viel mehr in Friedensprozesse einbringen können. Wir wissen, dass solche Abkommen besser sind und länger halten, wenn Frauen bei den Verhandlungen dabei waren. Das gleiche gilt für Gespräche zur Konfliktprävention. Geschlechterungerechtigkeit und Diskriminierung sind die Triebkraft sexueller Gewalt.

epd: Arbeiten sie auch mit traditionellen Oberhäuptern zusammen?

Patten: Wir arbeiten mit religiösen Führern, mit Dorfchefs, mit traditionellen Chiefs zusammen, aber vor allem auch mit lokalen Organisationen, die einen guten Kontakt zu solchen traditionellen Oberhäuptern haben. So wurde uns berichtet, dass im Südsudan Zweijährige, Vierjährige vergewaltigt wurden. Eine lokale Organisation erklärte uns, dass es den Aberglauben gibt, dass Männer unbesiegbare Kämpfer werden, wenn sie Sex mit einem Baby haben. Wir arbeiten jetzt mit traditionellen Dorfchefs, um dagegen anzugehen.

epd: Was wurde seit Einrichtung des UN-Mandats zu sexueller Gewalt vor zehn Jahren erreicht?

Patten: Frauen brechen zunehmend ihr Schweigen. So gab es in jüngster Zeit mehrere wichtige Gerichtsverfahren wegen sexueller Gewalt im Kongo und auch im Südsudan. Die Armee in der Elfenbeinküste hat eine Null-Toleranz-Politik beschlossen, setzt Aufklärungsprogramme um und zeigt eine deutliche Anstrengung bei Prävention und Bestrafung. Die Fälle sexueller Gewalt durch Soldaten sind deutlich zurückgegangen. 

Auch andere Länder sind in Kontakt mit meinem Büro für solche Vorhaben, wie die Zentralafrikanische Republik, der Kongo, Guinea, der Irak, Somalia, der Südsudan und neuerdings auch Myanmar und Mali. Die Zentralafrikanische Republik hat eine spezielle Polizeieinheit gegen sexuelle Gewalt gebildet, und wir arbeiten daran, ein Sondergericht aufzubauen für solche Fälle. In Guinea wurden 17 prominente Politiker angeklagt unter anderem wegen sexueller Gewalt, darunter der frühere Präsident. In Kolumbien war sexuelle Gewalt und ihre Aufarbeitung ein zentrales Thema des Friedensprozesses.

Heute gibt es ein viel größeres Bewusstsein für das Thema. Sexuelle Gewalt gilt nicht mehr als unvermeidbare Nebenerscheinung des Krieges, die Opfer gelten nicht mehr als Kollateralschaden. Der Fall der im Irak versklavten Jesidin Nadia Murad zeigt das deutlich. Noch vor fünf, zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine frühere Sexsklavin den Friedensnobelpreis erhält!