Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan

Düsseldorf/Kabul (epd). Zwanzig Jahre nach dem Ende ihres Schreckensregimes haben die Taliban erneut die Macht in Afghanistan übernommen. „Der Krieg ist vorbei“, sagte Taliban-Führer Mohammed Naim dem TV-Sender Al Dschasira. Taliban-Kämpfer kontrollierten am Montag alle Polizei-Checkpoints in Kabul. Der Leiter des Kabuler Büros von Caritas International, Stefan Recker, sieht für sich selbst keine Gefahr durch die Machtübernahme, äußerte im WDR5-„Morgenecho“ aber Sorge um seine nationalen Teammitglieder.

Viele seiner Mitarbeitenden gehörten ethnischen beziehungsweise religiösen Minderheiten an, sagte Recker, der seit 2014 in Kabul ist. Sie hätten „natürlich große Angst“ und wüssten nicht, wie es weitergehe. Der Machtübergang wird seiner Ansicht nach allerdings „relativ friedlich“ verlaufen. Unklar sei, wie es dann weitergehe. Es komme darauf an, welche Fraktion sich durchsetze. „Wir sehen aus Europa heraus Taliban immer als eine homogene Gruppe - das sind sie nicht“, unterstrich Recker. „Es gibt da ganz verschiedene Strömungen.“

„Momentan sind natürlich alle unsere Projekte hier in Kabul auf Eis“, erklärte Recker. In den Provinzen liefen die Projekte teilweise weiter. „Die Taliban sind da sehr sehr empfänglich für Hilfsmaßnahmen“, sagte er. „Sie haben uns aktiv gebeten, die Hilfsmaßnahmen durch unsere Partner fortzusetzen.“

Am Sonntag hatten die Aufständischen den Präsidentenpalast in Kabul eingenommen, nachdem Staatschef Aschraf Ghani aus Afghanistan geflohen war. Derweil lief die Evakuierung deutscher Staatsbürger und örtlicher Bundeswehr-Helfer an. Im niedersächsischen Wunstorf startete am Montag ein erstes Bundeswehr-Transportflugzeug vom Typ A400M nach Kabul.

Am Sonntag war das Personal der deutschen Botschaft an den militärisch gesicherten Teil des Flughafens in Kabul verlegt worden. Außenminister Heiko Maas (SPD) zufolge sollte noch ein Teil von ihnen am Sonntag ausgeflogen werden. Ein operatives Team werde dort bleiben, um die Handlungsfähigkeit zu erhalten, sagte Maas.

Am Flughafen von Kabul befanden sich am Montag Tausende Menschen, die versuchten, einen Platz in einem Flugzeug zu finden, um Afghanistan zu verlassen. Auf Fernsehbildern ist zu sehen, wie Hunderte zwischen stehenden Flugzeugen hin- und herlaufen. US-Soldaten gaben Warnschüsse ab, um zu verhindern, dass Menschen die Landebahn blockieren. US-Spezialkräfte sollten die Evakuierung westlicher Diplomaten sichern.

Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin warf der Bundesregierung eine Mitverantwortung für die Entwicklung in Afghanistan vor. Sie habe deutsche Soldaten immer wieder wider besseres Wissen und ohne eine politische Strategie in einen lange verlorenen Einsatz ziehen lassen, sagte Trittin dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (Montag). Der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff kritisierte in der „Welt“ Versäumnisse der Bundesregierung bei der Evakuierung früherer Bundeswehr-Helfer. Es sei „beschämend“, dass die Bundesregierung unfähig gewesen sei, Ortskräften beispielsweise in Masar-i-Sharif eine rechtzeitige Ausreise zu ermöglichen.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich forderte schnelles Handeln der Bundesregierung. „Wir müssen sofort damit beginnen, eine weitaus größere Zahl an deutschen Staatsbürgern, einheimischen Helfern der Alliierten und andere gefährdete Personen aus dem Land zu holen und vor den Taliban zu retten“, sagte er der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ (Montag). „Ich erwarte von der gesamten Bundesregierung, dass es nun endlich keine bürokratischen Hürden mehr für die Ortskräften gibt.“ Bisher sei zu viel Zeit verloren worden.

NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) erklärte in der „Rheinischen Post“, dass es in Nordrhein-Westfalen entsprechende Versorgungskapazitäten für eine schnelle Aufnahme gebe. „Selbstverständlich wird Nordrhein-Westfalen die Menschen, die uns vor Ort geholfen haben, aufnehmen“, sagte er.

Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, kündigte eine kritische Aufarbeitung der Vorgänge in Afghanistan an. „Es wird immer deutlicher, wie verheerend die Auswirkungen des überhasteten Abzugs der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan sind“, sagte Wadephul der „Welt“.