Sprachwissenschaftler: "Zeitenwende" spiegelt sich in Sprache wider

Hannover, Wiesbaden (epd). Nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers Peter Schlobinski prägt die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste „Zeitenwende“ die deutsche Sprache. „Wir fachsimpeln über die Unterschiede von Panzern des Typs Puma, Marder, Leopard, sprechen von Helden, Wehrhaftigkeit, Tapferkeit, davon, sich dem Feind entgegenzustellen“, sagte der Professor dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Kriegsmetaphorik mache deutlich, dass die Gesellschaft bei den Themen Militär und Verteidigung einen emotionalen Wandel durchlaufe. Schlobinski lehrte Germanistische Linguistik an der Leibniz Universität Hannover. Er ist Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache, die den von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geprägten Begriff der „Zeitenwende“ zum „Wort des Jahres 2022“ gewählt hat.

„Viele Menschen hierzulande sind von der Friedensbewegung geprägt“, sagte Schlobinski. „Frieden schaffen ohne Waffen“ und die ostpolitische Doktrin des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD) „Wandel durch Handel“ seien tiefverwurzelte Überzeugungen, die auch viele Jahre gut funktioniert hätten. „Der Angriff auf die Ukraine hat eine Schockwelle in der Gesellschaft und massive Erschütterungen ausgelöst“, sagt er. „Wir sind auch deshalb so überfordert, weil wir die vergangenen Jahrzehnte anders sozialisiert wurden“. Das gelte auch für ihn selbst. „Rückblickend würde ich mich als naiv bezeichnen.“

Dass sich die „Zeitenwende“, das Gefühl der Gesellschaft, auf dem Boden der bitteren Realität angekommen zu sein, auch auf Wortschatz und Sprachbilder auswirke, sei eine logische Konsequenz. „Sprache ist ein Seismograf für das, was eine Gesellschaft beschäftigt“, sagte der Professor.

Er könne verstehen, dass sogar die in der Friedensbewegung verwurzelten Menschen dazu neigten, Soldaten als Helden zu bezeichnen und Waffen mit Verteidigung gleichzusetzen, sagte Schlobinski. „Wir haben Angst, dass der Krieg zu uns überschwappt, dass vielleicht sogar ein Atomschlag droht, da bekommt das Argument, dass Soldaten und Waffen uns schützen, plötzlich ein neues Gewicht.“

In einer derartigen Bedrohungssituation lade sich der Wortschatz schnell emotional auf. „Ein Wort wie Held wird dann schnell gebraucht, ohne weiter zu reflektieren oder zu analysieren.“ Das hieße aber nicht zwangsläufig, dass die Menschen vergessen würden, dass Waffen, die die einen schützen, andere Menschen töten. „Beides hängt miteinander zusammen, unsere Perspektive hat sich lediglich verändert.“

Schlobinski wies darauf hin, dass eine Art von Kriegsmetaphorik bereits mit der Corona-Pandemie Einzug gehalten habe. „Es war vom Kampf und sogar der Generalmobilmachung gegen das Virus die Rede, davon, die Pandemie einzudämmen, dass es verschiedene Lager bei den Virologen gäbe, dass 'Fronten' zwischen Impfgegnern und -befürwortern verhärtet seien.“