Späte Anklage - Über Morde in der NS-Zeit wird noch heute verhandelt

Frankfurt a.M., Itzehoe (epd). Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft wiegt schwer: Als frühere Schreibkraft im Konzentrationslager Stutthof soll die heute 96-jährige Irmgard F. mit ihrer Arbeit Beihilfe zum Mord an mehr als 11.000 inhaftierten Juden, Partisanen und sowjetischen Kriegsgefangenen geleistet haben. Das Landgericht Itzehoe wird den Prozess gegen die frühere Stenotypistin des Lagerkommandanten Paul-Werner Hoppe am Dienstag fortsetzen.

Der Prozess gegen Irmgard F. und die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen ist wohl einer der letzten in Deutschland. Auch am Landgericht Neuruppin wird wegen Beihilfe zum Mord verhandelt, dort muss sich derzeit der 100-jährige Josef S. verantworten, der als Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen tätig war. Dass das heute hochbetagte Personal von Konzentrationslagern teils erst jetzt angeklagt wurde, liegt auch an einer unzureichenden Strafverfolgung in der Vergangenheit.

„Die westdeutsche Justiz hat spätestens ab Ende der 60er Jahre mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen versagt“, sagt Wolfgang Form, Politikwissenschaftler und Geschäftsführer des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg. Hierzu habe insbesondere auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beigetragen, etwa im sogenannten ersten Auschwitz-Verfahren vom 20. Februar 1969 (AZ: 2 StR 280/67).

Die Karlsruher Richter legten darin für die Verurteilung von NS-Mordhelfern wie dem früheren Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß in Auschwitz, Robert Mulka, besonders hohe Hürden für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord fest. Das Landgericht Frankfurt am Main hatte Mulka wegen Beihilfe zum Mord in nur vier Fällen an mindestens je 750 Menschen zu einer 14-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Nur in diesen Fällen konnte ihm eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden, etwa indem er das für die Vergasung der Juden verwendete Zyklon B beschafft hatte.

Der Bundesgerichtshof bestätigte die Entscheidung. Allein Mulkas Aufgabe, die „Transportabfertigungen“ zu organisieren, reiche für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord nicht aus. Es müsse belegt werden, dass bei einer konkreten Tötungsaktion eine individuelle Tatbeteiligung vorliegt. Nur weil eine Person „irgendwie“ in der Organisation des Konzentrationslagers eingegliedert sei, könne noch nicht von einer Beihilfe zum Mord ausgegangen werden. Andernfalls müsste auch ein Arzt verurteilt werden, der an der Rampe ankommende Juden nur verarztet.

„Den hat es allerdings wohl nie gegeben“, sagt Form. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs habe dazu geführt, dass viele Verfahren gegen NS-Verbrecher eingestellt wurden. Denn die konkrete Tatbeteiligung an einem Mord konnte nur schwer belegt werden. Bis 1949 sei eine Verurteilung noch am wahrscheinlichsten gewesen. 4.600 und damit 70 Prozent aller NS-Verfahren auf dem Gebiet der Bundesrepublik wurden Form zufolge bis zu diesem Zeitpunkt verhandelt.

Zwischen 1959 bis 2009 kamen nur acht Prozent weitere Verfahren hinzu. „Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen wurde auch erschwert, weil Verjährung drohte“, sagt der Wissenschaftler. Denn ursprünglich wären die Taten 20 Jahre nach Kriegsende, also am 8. Mai 1965, verjährt. In einer Bundestagsdebatte von 1965 zur Aufhebung der Verjährungsfristen befürchtete der Abgeordnete und spätere Bundesverfassungsgerichts-Präsident Ernst Benda (CDU), dass die Morde ungesühnt bleiben könnten. Während in der früheren DDR bereits 1964 die Nichtverjährung von Kriegs- und NS-Verbrechen beschlossen wurde, verlängerte die Bundesrepublik die Frist bis 1969 und dann nochmals auf 30 Jahre, um schließlich 1979 keine Verjährung mehr vorzusehen.

Mit einer neuen Generation von Juristen änderte sich die Rechtsprechung. 2009 entschied das Landgericht München II im Fall von John Demjanjuk, einem früheren Mitglied der SS-Hilfstruppen im Konzentrationslager Sobibor, erstmals, dass auch untergeordnete willige Befehlsempfänger sich wegen Beihilfe zum Mord verantworten müssen, selbst dann, wenn ihnen keine individuelle Beteiligung an einem konkreten Mord nachgewiesen werden kann. Die gegen Demjanjuk verhängte fünfjährige Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord an über 28.000 Menschen wurde wegen dessen Tod nicht mehr rechtskräftig.

Im Fall von Oskar Gröning, früherer „SS-Sturmmann“ im Konzentrationslager Auschwitz, bestätigte der Bundesgerichtshof am 20. September 2016 die vierjährige Haftstrafe (AZ: 3 StR 49/16). Es liege Beihilfe zum Mord an 300.000 ungarischen Juden vor, auch wenn die unmittelbare Beteiligung Grönings an diesen Tötungen nicht konkret belegt sei. Es reiche für die Verurteilung aus, dass er mit seinen Buchhaltertätigkeiten und einigen Diensten an der Rampe die „industrielle Tötungsmaschinerie“ wissentlich unterstützt hatte. An diesen Maßstäben werden sich auch die aktuellen Verfahren gegen die Sekretärin Irmgard F. und den Wachmann Josef S. orientieren.