Ringen um die humanitäre Hilfe für Nordwestsyrien

Frankfurt a.M./Genf (epd). Krieg, Vertreibung, Hunger und nun auch noch Corona: Zehn Jahre nach Beginn des Syrienkriegs sind Millionen von Menschen im Land auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) warnte jüngst vor der schlimmsten Hungerkrise seit Beginn des Konflikts. Besonders dramatisch ist die Situation im Nordwesten des Landes, wo das WFP 1,35 Millionen Hilfsbedürftige mit Lebensmitteln versorgt. Bald könnten die Menschen in der Region auch noch von diesen Hilfslieferungen abgeschnitten sein.

Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens ist eines der letzten von Rebellen kontrollierten Gebiete. Lebensmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter gelangen derzeit laut dem UN-Hilfswerk Ocha ausschließlich über einen einzigen Grenzübergang, Bab al-Hawa, in das Gebiet. Bis zu 1.000 Hilfs-Lkw überqueren jeden Monat den türkisch-syrischen Grenzort. Die aktuelle Autorisierung des UN-Sicherheitsrats für die Nutzung des Grenzübergangs läuft am 10. Juli aus - und noch steht nicht fest, ob er die Genehmigung verlängern wird.

Bereits im vergangenen Sommer hatte sich der Sicherheitsrat erst nach langen Verhandlungen auf eine Verlängerung des Mandats geeinigt. Der Vorschlag, neben Bab al-Hawa auch den weiter nördlich liegenden Grenzübergang Bab al-Salam für die Lieferung humanitärer Hilfsgüter zu öffnen, scheiterte damals am Veto Russlands, das seit Jahren seine schützende Hand über das Regime von Herrscher Baschar Al-Assad hält, und Chinas. Erst in letzter Minute einigten sich die Mitglieder des Sicherheitsrats darauf, zumindest Bab al-Hawa für ein weiteres Jahr offen zu halten.

Die westlichen Länder - allen voran die USA - setzen sich nun für eine weitere Autorisierung ein. Doch die Vetomacht Russland hat bereits signalisiert, dass sie einer Verlängerung nicht zustimmen will. Moskaus Botschafter bei den UN, Wassili Nebensja, nennt grenzüberschreitende Hilfslieferungen „anachronistisch“ und führt gegen sie vor allem die Souveränität Syriens ins Feld. Der syrische Staat habe das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren und zu schützen.

Am Freitag protestierten hunderte syrische Helferinnen und Helfer gegen die mögliche Schließung von Bab al-Hawa. Auch Internationale Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Sollte die Resolution nicht verlängert werden, stehe die Nahrungsmittelversorgung für mehr als eine Millionen Menschen auf dem Spiel, warnten 42 große Hilfsorganisation Mitte Juni. Auch die im Mai begonnene Corona-Impfkampagne könne nicht fortgesetzt werden. Die Organisationen fordern, dass der Sicherheitsrat nicht nur Bab al-Hawa offenhält, sondern auch weitere Grenzübergange für humanitäre Hilfe öffnet.

Zu den Unterzeichnern gehört das International Rescue Committee, das im Nordwesten des Landes Gesundheitszentren betreut und vom Krieg traumatisierte Kinder unterstützt. „Für unsere Arbeit hätte die Schließung von Bab al-Hawa katastrophale Folgen“, sagt die für die Syrien-Hilfe verantwortliche Programmdirektorin, Su'ad Jarbawi. Sie fürchtet etwa, dass chronische Krankheiten nicht mehr behandelt werden könnten. „Die Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten darf nicht politisiert werden“, sagt sie.

Doch letztlich, so schätzen UN-Experten wie Richard Gowan von der International Crisis Group, werden sich die Kontrahenten im Sicherheitsrat auf einen Kompromiss einigen. „Falls die Russen die humanitären Lieferungen mit ihrem Veto verhindern, richten sie eine Menge Schaden in ihren Beziehungen mit den USA an“, sagt Gowan. „Das liegt nicht im Interesse Moskaus, nachdem sich die Präsidenten der beiden Mächte erst vor kurzem bei ihrem Gipfel in Genf nähergekommen sind.“

Auch Jarbawi vom International Rescue Committee versucht, optimistisch zu bleiben. Sie hoffe, dass sich der Sicherheitsrat zu einer Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfe durchringe, sagt sie. Gleichzeitig plant sie mit ihren syrischen Partnerorganisationen für den schlimmsten Fall. „Wir überlegen, wie wir wenigstens ein paar Projekte aufrechterhalten können, wenn der Grenzübergang geschlossen wird.“