Nina fährt nach Hause

Über eine Million Menschen sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen. Mehr als fünfmal so viele wurden Binnenflüchtlinge in der Ukraine. Etliche von ihnen hält es nicht in den Notunterkünften fernab der Heimat.

Peretschyn (epd). Nina ist nach Hause gefahren. Die 93-jährige Frau hat es am Ende nicht mehr ausgehalten in der Notunterkunft in einer alten Schule, wo sie über ein Jahr gelebt und sich eigentlich - den Umständen entsprechend - wohlgefühlt hatte. Doch mit 93 Jahren fühlte Nina ihr Lebensende nahen, auf fremder Erde wollte sie daher nicht länger bleiben, sagen ihre Betreuer.

Also hat sich Nina von Peretschyn in der Westukraine auf den Weg gemacht zurück in ihr kleines Dorf bei Slowjansk im besetzten Donezker Gebiet, keine 30 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Ihr Haus stehe noch, hatten Nachbarn berichtet, aber Fenster und Türen seien zerstört.

Das Schwerste an der langen und beschwerlichen Reise zurück sei für Nina das Stück von Uschgorod, der Hauptstadt Transkarpatiens, nach Lwiw (Lemberg) gewesen, erzählt Olga. Die 22-Jährige teilte Wochen und Monate das Zimmer mit Nina und hat die 93-Jährige auf dem ersten Stück der Heimreise begleitet.

Jetzt lebt Olga im selben Zimmer im Erdgeschoss des Schulgebäudes mit ihrem ein Jahr älteren Freund Vlad. Die beiden Mitzwanziger haben sich - jeweils fernab der Heimat - in der Notunterkunft in Peretschyn kennengelernt. Sie ist Friseurin, er studiert noch.

Insgesamt 46 Flüchtlinge waren zwischenzeitlich in dem alten Schulgebäude untergekommen, das die ukrainische Hilfsorganisation Vostok SOS mit Unterstützung der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe ausgestattet hatte: Betten, Paravents, Küche, Spielzimmer. 46 Flüchtlinge von knapp 4.000, die kurz nach Ausbruch des Krieges in der kleinen Stadt zwischen dem Flussbett der Usch und den Hügeln Transkarpatiens Zuflucht gefunden hatten. 7.000 Menschen lebten vor dem Krieg in Peretschyn.

Viele Flüchtlinge sind inzwischen nach Hause zurückgekehrt, so wie Nina. Auch Olga will zurück: „Ich weiß nicht, wann. Aber wenn es nach meinem Plan geht, in einem Monat“, sagt die 22-Jährige. Ihr Freund Vlad schränkt ein, dass man natürlich nicht wisse, wann es soweit ist. Beide kommen aus besetzten Gebieten in der Region Luhansk.

Sie will auf jeden Fall irgendwann zurück, er ist zurückhaltender. Aber letztlich gehe er dahin, wohin Olga wolle, sagt Vlad. Die 22-Jährige versichert, man könne sich „an alles gewöhnen“. Und fügt hinzu: „Aber hier ist nicht unser Zuhause.“

Vlad will Ingenieur werden. Seit März 2022 lebt er in der Notunterkunft und studiert online. Die ganze Heimat ist besetzt, erzählt er. Seine Mutter und seine Oma kamen in Litauen unter, er blieb mit seinem Vater in der Westukraine. Dass er dort landen würde, war ihm selbst am Anfang nicht klar: „Als geschossen wurde, bin ich einfach in den erstbesten Bus gestiegen. Ich wusste nicht mal, wohin der fährt.“ Vlad landete in Peretschyn in der Westukraine, lebt seither dort und hat Olga getroffen.

In einem der Nachbarzimmer wohnen zwei ältere Frauen, eine mit ihrer behinderten Tochter. Die ältere, 70-jährige Frau bricht in Tränen aus, als sie nach ihrer Heimat und den Umständen ihrer Flucht gefragt wird. Von ihren beiden Söhnen höre sie kaum noch etwas, erzählt sie später. Einer sei in der Slowakei, der andere an der Front. Dieser sei auch schon verwundet worden, erzählt die 70-Jährige mit tränenerstickter Stimme. Sie selbst hat während des Krieges einen ganzen Monat im Luftschutzraum gelebt.

Ihre Mitbewohnerin zuckt bei der Frage nach den Lebensumständen in der Notunterkunft mit den Schultern: „Alles ist besser als Krieg.“ Jedoch habe auch die Solidarität der Menschen innerhalb der Ukraine 16 Monate nach Kriegsbeginn inzwischen abgenommen, fügt sie hinzu.

Ob die 93-jährige Nina wohlbehalten in der Heimat angekommen ist, weiß niemand ihrer früheren Mitbewohner. Aber sie habe nicht zum ersten Mal in ihrem Leben Flucht und Vertreibung erlebt. Sie konnte sich noch gut an die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erinnern. Ihren Lebensmut haben ihr beide Kriege nicht genommen: Besonders stolz war Nina immer auf ihre fünf Enkel, berichten ihre Mitbewohner.