Margot Käßmann: Krieg in der Ukraine ist keine Zeitenwende
Hannover (epd). Die evangelische Theologin Margot Käßmann lehnt trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine massive Rüstungsinvestitionen in Deutschland ab. „Für mich ist das keine Zeitenwende, so grauenvoll dieser Krieg auch ist“, sagte sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie verwies auf den andauernden Krieg in Syrien und auf den Krieg im Jemen. „Da verhungern gerade Millionen Menschen. Da schauen wir nur nicht hin. Wir sind auch durch Bilder gesteuert.“
Die ehemalige hannoversche Landesbischöfin und frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) betonte: „Für mich ist weiterhin klar: Noch mehr Rüstung, noch mehr Waffen werden nicht mehr Frieden schaffen.“ Zu den Gewinnern in der aktuellen Situation gehöre die Rüstungsindustrie. „Das zeigt ein Blick auf die Aktienkurse.“ Die Nato sei bereits um ein mehrfaches besser gerüstet als Russland. Es sei nicht so, dass sie dringend nachrüsten müsste. „Ich bleibe dabei, dass nur durch Abrüstung Frieden entsteht.“
Um den Krieg zu beenden, seien Diplomatie, Sanktionen und auch Gespräche mit dem Aggressor Putin nötig. „So schwer das fällt“, sagte Käßmann. Sie kritisierte, dass Deutschland zwar Waffen in die Ukraine liefere, jedoch nicht bereit sei, auf russische Gaslieferungen zu verzichten.
Die Kirchen müssten aktuell zu Behutsamkeit und Bedachtsamkeit mahnen, forderte sie. Sie sei schockiert darüber, dass der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill seinen Einfluss auf Putin nicht nutze, um zum Frieden zu mahnen. Dennoch wäre es aus ihrer Sicht falsch, die russisch-orthodoxe Kirche aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen auszuschließen, erläuterte Käßmann.
Ebenso halte sie es für verkehrt, dass Städtepartnerschaften oder Partnerschaften von Universitäten nach Russland ausgesetzt würden. „Die Kirchen sollten jetzt mahnen, dass wir Gespräche brauchen.“ Wie Jesus müssten kirchliche Vertreterinnen und Vertreter dabei auch provokativ sein, wenn dies nötig sei.
Das Interview im Wortlaut:
epd: Menschen fühlen sich hilflos angesichts des Krieges. Welche Handlungsoptionen haben Einzelne hier in Deutschland?
Margot Käßmann: Friedensgebete oder Ostermärsche sind Möglichkeiten, den eigenen Wunsch nach Frieden zu äußern. Ich weiß, das wird belächelt als naiv. Aber wenn du mit deiner Angst und Ohnmacht in eine Kirche kommst, vor Gott trittst mit anderen zusammen, dann kann das helfen. Das Gebet verändert ja immer auch uns selber. Zudem können wir Geflüchtete unterstützen und spenden, beispielsweise für die Diakonie Katastrophenhilfe.
epd: Mit dem russischen Angriff scheint sich das Denken in Deutschland mit Blick auf Rüstung verändert zu haben. Politikerinnen und Politiker sprechen von einer Zeitenwende. Wie sehen Sie das?
Käßmann: Persönlich bin ich erschrocken darüber, wie schnell eine Haltung sich ändert. Für mich ist das keine Zeitenwende. Der Krieg in Syrien währt elf Jahre und Putin hat dort ähnliches Grauen angerichtet wie jetzt in der Ukraine. Der Krieg im Jemen dauert sieben Jahre an, da verhungern gerade Millionen Menschen. Da schauen wir nur nicht hin. Wir sind auch durch Bilder gesteuert. Schauen wir uns den Irak an, schauen wir uns Afghanistan an. Da haben die USA vier Billionen in den Krieg gesteckt, aber Frieden ist nicht entstanden. Doch ich verstehe auch: Der Krieg ist uns jetzt in Europa wieder sehr nahe gerückt, das erzeugt unmittelbar Angst. Und es ist ja auch grauenvoll, ich hatte gehofft, es würde nie wieder dazu kommen.
Für mich ist weiterhin klar: Noch mehr Rüstung, noch mehr Waffen werden nicht mehr Frieden schaffen. Zumal sogar Atomwaffen existieren, die alles Leben vernichten können. Ich bleibe dabei, dass nur durch Abrüstung Frieden entsteht. Die Gewinner in der jetzigen Situation sind die Beteiligten in der Rüstungsindustrie, das zeigt ein Blick auf die Aktienkurse. Die Nato ist um ein mehrfaches ausgerüstet im Verhältnis zu Russland. Es ist nicht so, dass die Nato dringend aufholen müsste.
Jetzt will Deutschland Hundert Milliarden Euro in die Rüstung investieren. Das sind elf Nullen - Sonderschulden, die unsere Enkel und Urenkel werden abbezahlen müssen. Zugleich sind diese nachfolgenden Generationen am meisten bedroht durch die Klimakrise. Die wird verheerende Auswirkungen haben und hat sie schon. Deshalb hätte ich mir gewünscht, Hundert Milliarden Sondervermögen, um die Klimakrise anzugehen und nicht für mehr Militär.
epd: Auch in der Kirche sind die Ansichten da ja mittlerweile unterschiedlich...
Käßmann: Das habe ich immer erlebt, dass es in unserer Kirche unterschiedliche Meinungen gibt und das ist gut so! Ich finde, die Stimme der Kirche wird gebraucht, die zu Behutsamkeit, Bedachtsamkeit mahnt. Dieser Krieg wird beendet werden müssen, durch Diplomatie und Sanktionen, auch durch Gespräche mit dem Aggressor, so schwer das fällt. Befremdlich finde ich, dass Waffen geliefert werden, aber bloß keine Gaslieferung gestoppt, weil uns das selbst wehtun könnte.
Ich habe viele Jahre mit Patriarch Kyrill im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen gesessen. Es schockiert mich, dass dieser Patriarch nicht bereit ist, zum Frieden zu mahnen und seinen Einfluss auf Putin geltend zu machen. Der Kirchen in Deutschland haben sehr klar gesagt: Es gibt keinen gerechten Krieg, es gibt nur gerechten Frieden. Dass die Kirchen und gerade die russisch-orthodoxe Kirche mehr zum Frieden beitragen, das wünsche ich mir.
epd: Wie können denn die Kirchen in Deutschland zum Frieden beitragen?
Käßmann: Zum einen, in dem sie versuchen an die Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche anzuknüpfen. Die Kirchen sollten jetzt mahnen, dass wir Gespräche brauchen. Ich finde es nicht richtig, dass jetzt Städtepartnerschaften mit russischen Städten aufgekündigt werden, dass Universitäten Partnerschaften abbrechen. Die bestehenden Kontakte müssen intensiviert werden. Ich bin auch dagegen, die russisch-orthodoxe Kirche aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen auszuschließen.
Aber es gibt auch Hoffnung. Etliche russisch-orthodoxe Priester haben sich jetzt gegen den Krieg ausgesprochen. Und das ist in Russland wesentlich mutiger, als wenn ich hier etwas über Krieg und Frieden sage. Und die Anführer von Muslimen, Drusen und Christen haben eine Botschaft an die Tür der russisch-orthodoxen Kirche in Jerusalem gehängt. Das ist auch hoffnungsvoll. Die Stimme der Religionen ist schon hörbar.
epd: Wird denn diese Stimme wirklich wahrgenommen?
Käßmann: Mein Eindruck ist: Wenn die Stimme der Kirche störend ist, dann wird erklärt, sie solle sich gefälligst nicht in die Politik einmischen. Aber dabei muss sie bleiben. Jesus bleibt provokativ, das hat Martin Luther King schon gesagt. Ein Satz wie „Liebet eure Feinde“ oder „Selig sind die Friedensstiftenden“, das ist eine Provokation. Und die sollten wir nicht verschweigen. Denn Schweigen ist auch politisch. Das Schwert und der Tod haben nicht das letzte Wort. Das sagt die Geschichte von Jesus von Nazareth, und das ist eine Glaubensaussage, die in dieser Welt relevant ist.