Kohlgraf teilt Sorgen vor weiterer Eskalation des Ukraine-Kriegs

Mainz (epd). Der katholische Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hält Ängste vor einer weiteren Eskalation des Ukraine-Kriegs und einer direkten Kriegsbeteiligung Deutschlands für berechtigt. „Ehrlich gesagt treibt mich die Sorge auch um“, sagte der Präsident der deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung Pax Christi in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch Papst Franziskus habe bereits von einem Dritten Weltkrieg gesprochen - „und zwar nicht von einem drohenden, sondern davon, dass wir uns eigentlich schon mitten drin befinden“.

Seine eigenen friedensethischen Grundsätze habe er durch den Ukraine-Krieg nicht revidiert, versicherte der Bischof. Niemand könne aus einem Krieg „schuldlos herauskommen“. Dies gelte auch jetzt: „Egal, wo wir Waffen einsetzen, machen wir uns schuldig, weil Waffen töten. Wenn nichts getan wird, macht man sich auch schuldig.“

Einen „gerechten Frieden“ für die Ukraine zu erreichen, ist nach Überzeugung Kohlgrafs derzeit extrem schwierig. Auf russischer Seite sehe er dazu keine wirkliche Bereitschaft, stattdessen eine „großrussische Ideologie, die vonseiten der russisch-orthodoxen Kirche religiös verbrämt wird“. In Waffenstillstandsverhandlungen würde sich Russland sicherlich weigern, die derzeit kontrollierten Gebiete wieder zu räumen. „Diese Situation macht alle friedensethischen Überlegungen so schwierig“, sagte der Bischof. Für eine echte Versöhnung sei es zudem nötig, dass Täter auch Verantwortung übernehmen.

Der Pax-Christi-Präsident sprach sich zugleich deutlich gegen eine Diskreditierung von pazifistischen Einstellungen aus. Diese seien als Gegengewicht zur verbreiteten militärischen Rhetorik wichtig. „Wir müssen bei allen realpolitischen Debatten aufpassen, dass Menschen mit pazifistischen Positionen am Ende nicht als die Deppen dastehen“, sagte er. In Zeiten, in denen sich Christen gegenseitig töteten, sei es wichtig, an das Evangelium zu erinnern: „Die biblischen Friedensvisionen sind pazifistisch, sie sind in kriegerischen Zeiten entstanden und geben die Hoffnung, dass Krieg, Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben.“

Das Interview im Wortlaut:

epd: Seit einem Jahr tobt im Osten Europas ein großer Krieg, bei dem unklar ist, wie sehr er noch eskaliert. Zum Jahrestag wird es in vielen Kirchen in Deutschland Friedensandachten und Gebete geben. Kann die Kirche sonst noch etwas tun?

Kohlgraf: Selbstverständlich gibt es viel konkrete Hilfe. Da ist die Sorge um die geflüchteten Menschen, die Unterstützung der ukrainischen Gemeinden. Wir unterstützen in unseren katholischen Schulen und Kindergärten ukrainische Kinder und Jugendliche. Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich sehr stark auf Waffenlieferungen und die militärische Dimension der Unterstützung. Aber natürlich sind auch wir durch Caritas International und durch die Hilfswerke in der Ukraine präsent.

epd: Seit dem russischen Angriff ringen die Kirchen um ihre friedensethischen Positionen. Hat sich Ihre persönliche Haltung in den vergangenen Monaten verändert?

Kohlgraf: Grundsätze habe ich sicher nicht über Bord geworfen. Die Pax-Christi-Bewegung ist von ihren Ursprüngen her sehr stark auf Versöhnungsarbeit, aktive Gewaltfreiheit, Friedenserziehung und Diplomatie eingestellt. Und grundsätzlich stehe ich auch zu diesen Positionen. Ich stelle fest, dass es innerhalb der katholischen Friedensethik durchaus unterschiedliche Positionen gibt, die ich für legitim halte. Trotzdem verbindet uns das Ringen um friedliche Lösungen. Ein wichtiger Aspekt für die Friedensethik ist aber auch, inwiefern man sich schuldig macht, wenn man nichts unternimmt, also keine militärische Hilfe leistet.

epd: Evangelische, katholische und orthodoxe Kirchen folgen dem Leitbild des gerechten Friedens. Wie könnte der in der Ukraine aussehen?

Kohlgraf: Es müsste theoretisch eine Bereitschaft aller Seiten geben, an einer solchen gerechten Ordnung zu arbeiten. Auf Seiten Russlands sehe ich das momentan nicht - stattdessen eine großrussische Ideologie, die vonseiten der russisch-orthodoxen Kirche religiös verbrämt wird. Ich kann auch verstehen, dass die Ukraine nicht einfach ihre Gebiete preisgibt. Würde man den jetzigen Zustand akzeptieren, hätte der Aggressor gewissermaßen gewonnen. In Waffenstillstandsverhandlungen wäre er sicherlich nicht bereit, die eingenommenen Gebiete wieder zurückzugeben. Diese Situation macht alle friedensethischen Überlegungen so schwierig.

Und schließlich bedeutet Versöhnung immer auch, dass Täter Verantwortung übernehmen. Es geht nicht, den Mantel des Schweigens über Dinge zu decken. Das war auch nach dem Zweiten Weltkrieg so. Dass sich die Verantwortlichen in Russland ihrer Verantwortung stellen, wird sicherlich ein schwerer Weg.

epd: Viele Menschen in Deutschland haben Angst, dass der Krieg in der Ukraine in einen Weltkrieg münden könnte. Ist es legitim, sich solche Sorgen zu machen? Oder muss man sich - wie es neulich in der FAZ zu lesen war - fragen, ob die Deutschen an einer krankhaften „Eskalationsphobie“ leiden?

Kohlgraf: Man kann doch nicht sagen, dass jemand vor einer bestimmten Situation keine Angst haben darf. Dahinter stecken ernste Fragen, etwa die, ab wann Deutschland als Kriegspartei gilt. Ehrlich gesagt treibt mich die Sorge auch um. Und ich erinnere daran, dass Papst Franziskus vor einigen Wochen bereits von einem Dritten Weltkrieg gesprochen hat. Und zwar nicht von einem drohenden, sondern davon, dass wir uns eigentlich schon mitten drin befinden.

Putin hat bereits Andeutungen gemacht, dass er die Nato als Kriegspartei betrachtet. Er wird sich von uns die Deutungshoheit nicht nehmen lassen. Dennoch darf uns das nicht lähmen. Die Drohung mit Nuklearwaffen gilt es ernst zu nehmen. Ob Putin selbst an einer solchen Eskalation interessiert ist, kann ich nicht einschätzen, aber so irrational handelt er meines Erachtens nicht.

epd: Insbesondere während der ersten Monate wurde der Papst immer wieder als möglicher Vermittler zwischen den Kriegsparteien genannt. Ist das realistisch?

Kohlgraf: Ich glaube, das wird schwierig. Nicht zuletzt, weil das Verhältnis der russisch-orthodoxen Kirche zur römisch-katholischen nicht erst jetzt durch den Krieg ziemlich angeschlagen war. Die russisch-orthodoxe Kirche hat beispielsweise über Jahre einen Papst-Besuch in Moskau verhindert. Auf der anderen Seite gibt es die vatikanische Diplomatie, die auch andere Kanäle bespielt. Aus Gesprächen und Begegnungen ist mir klar: Deren Mühlen sind durchaus aktiv.

epd: Der Angriff auf die Ukraine wird Europa voraussichtlich auf Jahrzehnte grundlegend verändern. Aus der Perspektive anderer Weltregionen ist es nur ein Krieg von vielen, der vor allem wegen der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise Sorgen hervorruft. Können Sie so eine Haltung nachvollziehen?

Kohlgraf: Aus europäischer Sicht ist natürlich klar, warum uns dieser Krieg ganz besonders beschäftigt. Er spielt sich an unseren Grenzen ab. Es ist ein Krieg, den wir so nie erwartet hätten, weil wir uns seit Jahrzehnten sicher fühlten. Für uns ist die europäische Ordnung zusammengebrochen, die Flüchtlinge aus der Ukraine stehen uns kulturell und mental sehr nahe.

Dass andere Weltregionen das emotional und politisch anders sehen, ist für mich völlig nachvollziehbar. Auch wir haben die vielen Kriegsherde in der Welt immer „unter ferner liefen“ abgehandelt. Der Papst war gerade erst im Sudan und im Kongo. Dort sterben ebenfalls Zehntausende oder Hunderttausende Menschen, die uns eigentlich in den vergangenen Jahren nicht wirklich interessiert haben. Für mich als Christ darf es nicht Kriegsopfer erster oder zweiter Klasse geben.

epd: Nicht nur die Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern sind durch den Krieg zerstört. Auch in Deutschland wird der Ton in der öffentlichen Debatte über den Krieg immer hasserfüllter. Wie kann das gestoppt werden?

Kohlgraf: Eigentlich betrifft das ja alle gesellschaftlichen Debatten. Von einem Soziologen habe ich gerade erst die Feststellung gelesen: Je unübersichtlicher die Lage ist, desto schärfer wird der Ton - weil das Sicherheit gibt. Wir müssen aber suchen und ringen. Natürlich brauchen wir in manchen Fragen Klarheit. Aber wir kommen aus einem Krieg niemals schuldlos heraus. Das macht den Krieg auch so schrecklich. Egal, wo wir Waffen einsetzen, machen wir uns schuldig, weil Waffen töten. Wenn nichts getan wird, macht man sich auch schuldig.

epd: Sind Sie eigentlich noch Pazifist?

Kohlgraf: Es gibt sicherlich verschiedene Schattierungen von Pazifismus. Und sicherlich sind pazifistische Positionen in dieser Debatte wichtig, weil sie die militärische Rhetorik aufbrechen. Ich halte es auch für wichtig, dass wir in einer Zeit, in der sich Christenmenschen gegenseitig totschießen, an das Evangelium erinnern. Die biblischen Friedensvisionen sind pazifistisch, sie sind in kriegerischen Zeiten entstanden und geben die Hoffnung, dass Krieg, Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben. Wir müssen bei allen realpolitischen Debatten aufpassen, dass Menschen mit pazifistischen Positionen am Ende nicht als die Deppen dastehen.