Käßmann: Die Toten im Krieg sind alle Opfer

Auf der Kundgebung des Stuttgarter Bündnisses "Stoppt das Töten in der Ukraine" beklagte die Theologin Margot Käßmann "eine beispiellose Militarisierung in Denken, Politik und Sprache". Der Arzt Gerhard Trabert forderte Friedensverhandlungen.

Stuttgart (epd). Der Stellungskrieg in der Ukraine erinnere an Verdun im Ersten Weltkrieg, sagt die Theologin Margot Käßmann. Sie sprach am Sonntag (10. September) auf einer Kundgebung des Stuttgarter Bündnisses „Stoppt das Töten in der Ukraine“ auf dem Stuttgarter Schlossplatz. An ihr nahmen laut Veranstalter zwischen 800 und 1.000 Menschen teil. In Verdun seien mehr als 300.000 junge Männer sinnlos ums Leben gekommen, sagte Käßmann laut Redemanuskript. Neben ihr sprachen der ver.di-Landesbezirksleiter Martin Gross und der Mainzer Arzt Gerhard Trabert.

Mit Sorge sieht Käßmann „eine beispiellose Militarisierung in Denken, Politik und Sprache“. Hinter Begriffen wie „Tapferkeit“, „Heldenmut“, und „totaler Sieg“ würden sich „Menschen und unermessliches Leid“ verbergen. Der Tod werde mit „er ist gefallen“ umschrieben. „Gefallen? Nein: Getötet! Ermordet! Elendiglich verreckt, Soldaten doch ebenso wie Zivilisten.“ Wann sei Schluss mit diesem Wahnsinn, eine angemessene Verhandlungsposition erreicht, fragte Käßmann. Bei einer Million Opfern? Nein: „Jetzt, sofort.“

Waffenstillstand heiße nicht Kapitulation, aber durch ihn könne sondiert werden, wie verhandelt werden könne. „Wir wollen nicht, dass noch mehr Waffen in das Kriegsgebiet geliefert werden. Mit diesen Waffenlieferungen, so hat es der Philosoph Jürgen Habermas eindrücklich herausgearbeitet, werden wir mitverantwortlich für all die Toten.“ Erst seien Helme geliefert worden, dann „ausschließlich Verteidigungswaffen“, dann „keine letalen Waffen“, dann Angriffspanzer. Die USA lieferten inzwischen sogar Streumunition. „Wir fordern die Bundesregierung auf, alle Kraft einzusetzen, damit massive internationale diplomatische Kraftanstrengungen zu einem Waffenstillstand und anschließenden Verhandlungen führen.“

„Mein Vater war 18, als der Zweite Weltkrieg begann, wurde sofort eingezogen. Er war in der Armee der Täter. Aber er war auch Opfer. Und er hat den Krieg bis zum Ende seines Lebens gehasst. Alle Toten im Krieg haben mein Mitgefühl, denn sie sind alle Opfer“, sagte Käßmann. Die Kirchen der Welt seien immer in die Irre gegangen, wenn sie Gewalt legitimierten. „Denn im Evangelium findet sich dafür keinerlei Grundlage. Ich wünsche mir, dass die Kirchen der Welt mit ihren Oberhäuptern wie ihren Mitgliedern sich energisch für ein sofortiges Schweigen der Waffen einsetzen.“

Rüstungsausgaben ins Grundgesetz zu schreiben, ist aus Sicht von Gerhard Trabert „höchst fragwürdig“. Er forderte laut Redemanuskript „die Festsetzung von finanziellen Mitteln im Grundgesetz zur Armutsbekämpfung“. Unternehmen, die von der militärischen Aufrüstung profitieren, müssten natürlich eine Solidaritätsabgabe an den Staat und eine Übergewinnsteuer zahlen. Zu den Wurzeln des Krieges gehöre der Glaube vieler Menschen, „dass die Mächtigen wissen, was sie tun, dass Leid, Not und Tod nur die anderen trifft, dass Unterdrückung Freiheit bringen kann, dass man nichts gegen den Krieg tun kann“. Immer wieder werde behauptet, Befürworter von Friedensverhandlungen seien gegen das ukrainische Volk. Das Gegenteil sei der Fall, gerade aufgrund der Solidarität mit den Kindern, Frauen und Männern in der Ukraine.

„Die Stimmen der Friedensbewegung wurden anderthalb Jahre ignoriert und auch diffamiert“, beklagte laut Manuskript Martin Gross. „Es ist an der Zeit, unsere Vorschläge, wie Waffenstillstand und Friedensverhandlungen erreicht werden können, endlich ernst zu nehmen.“ Unterschiedliche Meinungen seien „das Herz einer Demokratie“. Gross betonte: „Wir können miteinander um die richtigen Antworten ringen, ohne uns persönlich angreifen zu müssen.“ Was er sehe, halte er „körperlich fast nicht mehr aus“. „Jeden Tag sterben hunderte Menschen, auf beiden Seiten, für Geländegewinne von wenigen Metern hin oder her. Ganze Landstriche werden zerschossen und zerbombt, auch mit Streubomben, und damit für Jahre unbewohnbar gemacht.“ Ziel müssten „Entspannungspolitik und Annäherung“ sein, sie hätten „uns allen eine der längsten Friedenszeiten in Europa gebracht“.

Das Stuttgarter Bündnis „Stoppt das Töten in der Ukraine“ ist ein Zusammenschluss von Einzelpersonen aus Politik, Kirchen, Gewerkschaften, Kunst und Kultur. Zu den Unterstützern zählen die Organisationen Ohne Rüstung Leben (Stuttgart) und pax christi (Rottenburg-Stuttgart).