Jürgen Grässlin: Schießverweigerung "aus Gründen der Nächstenliebe"

Freiburg (epd). Die schlimmste Form der Umweltzerstörung ist nach Ansicht von Jürgen Grässlin der Krieg. Das Militär sei weltweit der sechstgrößte Klimakiller, schreibt der Freiburger Rüstungsgegner in seinem autobiografischen Buch „Einschüchtern zwecklos“. „Das muss sich schnellstmöglich ändern, will die Menschheit überleben“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Doch die Täter in den Armeen und in der Rüstungsindustrie blieben von allen bedeutenden Umweltschutzabkommen bislang vollkommen ausgenommen.

Mit seinem neuen Buch will Grässlin „all den Menschen Mut machen, die glauben, wenig oder nichts bewegen zu können“. Sein eigener Lebensweg beweise das Gegenteil: Wer sich standhaft wehre, komme seinen Zielen Schritt für Schritt näher, selbst im Widerstreit mit den Mächtigsten der Republik. Dass er zum überzeugten Pazifisten wurde, sagte Grässlin, verdanke er der Bundeswehr. Als junger Soldat habe er sich „aus Gründen der Nächstenliebe“ geweigert, auf der Schießbahn Chinesen zwischen die Augen zu schießen.

„Unsere Vorwürfe gegen die Täter in den Waffenschmieden müssen vor Gericht standhalten“, musste Grässlin lernen. Ebenso wichtig sei es, nie seine Vision aus den Augen zu verlieren, in seinem Fall eine Welt ohne Waffen und Militär. „Aber sei dir dessen bewusst, dass man dicke Bretter in Jahren und Jahrzehnten durchbohren muss.“

Die Grünen, kritisiert deren früheres Parteimitglied, hätten radikal mit ihren friedensbewegten Grundsatzpositionen gebrochen. „Längst verhöhnen und verspotten sie uns, die wir diese Positionen nicht verraten haben.“ Das neue Rüstungsexportkontrollgesetz werde „in vielen Fällen als Förderungsgesetz für Waffenhandel wirken“.

Nach den Versuchen, ihn gerichtlich mundtot zu machen, habe er „den Spieß herumgedreht“, sagt Grässlin, und Strafanzeigen gegen illegale Waffenexporte gestellt. „Nicht ich fürchte sie, sie fürchten uns.“ An Kriegsschauplätzen in Afrika und in Asien interviewte Grässlin die Opfer. Das Knacken der Knochen unter ihm in den Massengräbern, beim Ausgraben von Gewehrmunition zwischen den Gebeinen, verfolge ihn bis in seine Träume.

Grässlin ist Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!“, der „Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen“ und Vorsitzender des Rüstungsinformationsbüros in Freiburg. Von der Bundesregierung wünscht er sich „eine Politik, die das Wohl der Menschen, allen voran der Notleidenden hierzulande und in den Entwicklungsländern in den Mittelpunkt stellt“.

Das Interview im Wortlaut:

epd: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Grässlin: Ich möchte all den Menschen Mut machen, die in dieser Zeit der voranschreitenden Klimakatastrophe, der Postpandemie und der Kriege glauben, wenig oder nichts bewegen zu können. Mit meinem Lebensweg beweise ich das genaue Gegenteil: Wer sich gerade in schweren Zeiten standhaft wehrt, der wird seinen Zielen Schritt für Schritt näher kommen. Selbst im Widerstreit mit den Mächtigsten der Republik!

epd: Sie beschreiben mehrere Schlüsselerlebnisse, das erste als Soldat. Was war da los?

Grässlin: Nachdem ich Ende der Siebzigerjahre als Sanitätssoldat am Sturmgewehr G3 ausgebildet worden war, sollte ich meine ersten Schüsse abgeben. Auf der Schießbahn wurde uns befohlen: „Heute üben wir das Kopfschusstraining an Chinesen.“ Im Kalten Krieg wurde das Feindbild China und auch Russland aufgebaut, was mich an die heutige Zeit erinnert. Damals sollten wir Chinesen zwischen die Augen schießen - was ich aus Gründen der Nächstenliebe verweigerte. Der Bundeswehr verdanke ich, dass ich zum überzeugten Pazifisten wurde.

epd: Ihr jahrzehntelanger Einsatz gegen die Kleinwaffen von Heckler & Koch begann mit einer Filmvorführung im Oktober 1984.

Grässlin: Der Münchner Filmemacher Wolfgang Landgraeber zeigte seinen Film „Fern vom Krieg“ über das - gemessen an den Opferzahlen - tödlichste Unternehmen Europas: den Kleinwaffenhersteller Heckler & Koch (H&K). Und das im Oberndorfer KKK-Kino, sprich in der Höhle des Löwen. Trotz massiver Beschimpfungen und Bedrohungen blieb er standhaft. Dank Wolfgangs mutigem Vorbild entwickelte ich mich zum aktiven Rechercheur, publizierte mehrere Bücher über die Machenschaften von H&K - mit beachtlichen Rechercheerfolgen und mehreren juristischen Siegen.

epd: Welche Lektionen haben Sie dabei lernen müssen?

Grässlin: Lektion 1: Unsere Vorwürfe gegen die Täter in den Waffenschmieden müssen vor Gericht standhalten, was mir dank acht Whistleblowern immer besser gelang. Lektion 2: Verliere nie deine Vision aus den Augen - in meinem Fall eine Welt ohne Waffen und Militär. Aber sei dir dessen bewusst, dass man dicke Bretter in Jahren und Jahrzehnten durchbohren muss.

epd: Sie wurden 1987 Mitglied der Grünen, sind heute parteilos. Welche Partei hat Sie am meisten enttäuscht?

Grässlin: Bündnis 90/Die Grünen haben in den vergangenen 25 Jahren radikal mit ihren vormals friedensbewegten Grundsatzpositionen im Bereich der Sicherheits-, Außen- und Wirtschaftspolitik gebrochen. Längst verhöhnen und verspotten sie uns, die wir diese Positionen nicht verraten haben. Heute stehen Robert Habeck und Sven Giegold dem Bundeswirtschaftsministerium vor. Jetzt könnten sie das Wahlversprechen von 2021 - wörtlich: „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete“ - umsetzen. Stattdessen erarbeiten sie gerade die Vorlage eines neuen Rüstungsexportkontrollgesetzes, das in vielen Fällen als Förderungsgesetz für Waffenhandel wirken wird.

epd: Was war Ihre härteste Niederlage, der brutalste persönliche Angriff?

Grässlin: Den brutalsten Angriff erlebte ich seitens des Daimler-Konzerns mit seinem Vorsitzenden Jürgen E. Schrempp. Ich hatte bei einem Liveauftritt im SWR-Fernsehen Mutmaßungen über Schrempps Rücktrittsgründe geäußert. Allein die jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen vor dem Hamburger Landgericht und Oberlandesgericht kosteten mich rund 60.000 Euro. Denn die Justiz in der Hansestadt gewichtete den Persönlichkeitsschutz des Daimler-Bosses höher als Artikel 5 des Grundgesetzes zur Presse- und Meinungsfreiheit. Schrempp ging es darum, mich mit juristischen Mitteln mundtot zu machen und finanziell auszubluten.

epd: Welcher Erfolg hat Sie am meisten gefreut?

Grässlin: Der Bundesgerichtshof (BGH) gab uns im September 2009 auf ganzer Linie recht, hob die Hamburger Fehlurteile auf, verdonnerte Schrempp und den Konzern zur Zahlung der Prozesskosten und zur Rückzahlung unserer Aufwendungen. Ein Präzedenzfall in Sachen Meinungsfreiheit in Deutschland. Seither drehe ich den Spieß um, habe meinerseits mit unserem Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen H&K wegen widerrechtlicher Waffenexporte in verbotene Unruheprovinzen Mexikos und im Namen von „Aktion Aufschrei!“ Strafanzeige gegen SIG SAUER wegen illegaler Pistolenexporte ins Bürgerkriegsland Kolumbien gestellt. Für die Friedensbewegung haben wir drei Prozesse vor dem BGH gewonnen. Das Ergebnis: Nicht ich fürchte sie, sie fürchten uns. Einschüchtern zwecklos!

epd: Sie sind weltweit Opfern des Waffeneinsatzes begegnet. Welche Begegnung verfolgt Sie am meisten?

Grässlin: Mit der Jahrtausendwende wandelte ich mich: von nationalen und internationalen Fachmagazinen und intensiven Kontakten in die Konzerne hin zum Vor-Ort-Rechercheur. Ich habe mich auf die Kriegsschauplätze in mehreren Ländern in Afrika und in Asien begeben, vor allem auf den Spuren des Einsatzes deutscher G3-Gewehre. Allein in Somalia und in Türkisch-Kurdistan habe ich 220 Menschen interviewt. Menschen, die zumeist bis heute traumatisiert sind. Die in wachgerufenen Erinnerungen Flashbacks bekamen und einen unglaublichen Groll gegen die deutschen Waffenexporteure hegen. Bis in meine Träume hinein verfolgen mich meine Erlebnisse beim Ausgraben von Gewehrmunition zwischen den Gebeinen der Exekutierten, vor allem das Knacken der Knochen unter mir in den Massengräbern.

epd: Was ist Ihr größter Wunsch an die Bundesregierung?

Grässlin: Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Einhalten der Wahlversprechen. Eine Politik, die das Wohl der Menschen, allen voran der Notleidenden hierzulande und in den Entwicklungsländern in den Mittelpunkt stellt. Die endlich die Kinderarmut und den Hunger bekämpft. Die allen Menschen Bildung vermittelt. Die tatsächlich Frieden, Gerechtigkeit und nachhaltigen Umweltschutz schafft. Die sich damit den Profitinteressen von Rüstungs-, Chemie- und Autokonzernen entgegenstellt. Es ist müßig zu betonen, dass in den ersten beiden Jahren der Ampelkoalition - im Übrigen nicht anders als zur Zeit der Großen Koalition - vielfach das Gegenteil der Fall war und ist.

epd: Und an Menschen, die die Welt ein klein wenig besser machen wollen?

Grässlin: Mein Buch endet mit einer Vision einer besseren, gerechteren und ökologisch intakteren Welt. Dieses Ziel können wir nur dann erreichen, wenn wir in diesen alles entscheidenden Jahren der drohenden klimatischen Kipppunkte richtig aktiv werden. Hierzu zeige ich mit meinen Handlungsanleitungen „Im Einsatz für eine bessere Welt“ konkrete Optionen auf.

epd: Sie verweisen dabei auf den ignorierten „Umwelt- und Klimakiller Militär“.

Grässlin: Meine Analysen, basierend auf den umfassenden Recherchen der Konstanzer und Tübinger Friedensfreunde, ergeben ein erschreckendes Bild: Die schlimmste Form der Umweltzerstörung ist Krieg! Doch die Täter in den Armeen und in der Rüstungsindustrie bleiben von allen bedeutenden Umweltschutzabkommen vollkommen ausgenommen. Noch ist der militärisch-industrielle Komplex stärker als die Vereinten Nationen und die Umweltorganisationen. Militär ist weltweit der sechstgrößte Klimakiller. Das muss sich schnellstmöglich ändern, will die Menschheit überleben. Auch hier gilt das Nachwort meines Buches, in dem ich alle gutgesinnten Menschen auffordere: Leisten Sie aktiv Widerstand gegen diese Politik!