Jubiläum im Schatten der Pandemie

Genf (epd). Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, gilt als gewiefter Meister der Diplomatie. Er wägt seine Worte ab, rhetorische Schnellschüsse sind seine Sache nicht. Anfang Februar umriss der Portugiese die Schwerpunkte der UN-Aktivitäten für 2020 - das Jahr, in dem die Weltorganisation an ihre Gründung vor 75 Jahren erinnert. Damals ahnte Guterres noch nicht, welche globale Katastrophe sich im Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen zusammenbraut: Die Corona-Pandemie. 

Der UN-Generalsekretär versprach, mit den Instrumenten der Diplomatie die Welt sicherer zu machen. Denn: "Ein Wind des Wahnsinns fegt über den Globus", warnte er mit Blick auf die vielen Konflikte mit Millionen Flüchtlingen, Verletzten und Toten: "Von Libyen über Jemen bis Syrien und darüber hinaus. Die Eskalation ist zurück." Guterres hätte mühelos weitere Konflikte auflisten können: Von Afghanistan über die Demokratische Republik Kongo bis zur Ukraine. 

Guterres sagte es nicht laut, die Zuhörer wussten es aber: Die Vereinten Nationen spielen bei ihrem wichtigsten Ziel, der Schaffung von Frieden, nicht die Rolle, die viele Menschen bei ihrer Gründung vor 75 Jahren erhofft hatten. Zu viele Staaten, besonders die USA unter Präsident Donald Trump, China unter Präsident Xi Jinping und Russland unter Staatschef Wladimir Putin, stellen ihre nationalen Interessen rücksichtslos über das globale Gemeinwohl. Wegen dieses Versagens und der Corona-Pandemie ist die Stimmung bei den UN mit heute 193 Mitgliedsstaaten im Jubiläumsjahr sehr gedämpft. 

Vor einem dreiviertel Jahrhundert, am 26. Juni 1945, unterzeichneten Vertreter von 50 Staaten im kalifornischen San Francisco die Charta der UN. Am 24. Oktober 1945 trat das Regelwerk in Kraft: Es war der Geburtstag der Weltorganisation. Angesichts des Schreckens des Zweiten Weltkrieges sollte der neue Staatenbund mit seinem Herzstück, dem Sicherheitsrat, eine Ära des gewaltlosen Miteinanders einleiten. "Künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren", wurde als Leitmotiv ausgegeben. Zwar trugen die UN seit 1945 zur Vermeidung "großer Kriege" bei und sie halfen vielen Kleinstaaten in einer gefährlichen Welt "zu überleben", wie der Außenminister Singapurs, Vivian Balakrishnan, sagt. 

Doch selbst während der Corona-Pandemie, die bereits Hunderttausende Menschenleben auslöschte und die Welt ins wirtschaftliche und soziale Chaos stürzt, schweigen die Waffen auf den Schlachtfeldern nicht. Guterres hoffte auf die Gunst der Stunde und rief am 23. März angesichts der eskalierenden Pandemie alle Konfliktparteien "in allen Ecken der Welt" zu einem Waffenstillstand auf: "Es ist die Zeit bewaffnete Konflikte in einen Lockdown zu stecken und uns zusammen auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren." Das Ende der Kämpfe könnte Kräfte freisetzen, um das Coronavirus zu besiegen. 

Die Bilanz des Guterres-Appells fällt ernüchternd aus. Zwar unterstützen weit mehr als 100 Länder und bewaffnete Gruppen die Initiative. Darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Doch fehlt dem Appell das entscheidende völkerrechtliche Siegel des Sicherheitsrates. Vor allem die Vetomächte USA und China verhindern eine rechtlich verbindliche Resolution zur Unterstützung des Appells. Es sei ein "deprimierendes Desaster", urteilt der UN-Experte der Friedensforschergruppe Crisis Group, Richard Gowan. "Der Globale Waffenstillstands-Appell war sehr vielversprechend", sagt er. Hätte sich der UN-Sicherheitsrat von Anfang an "entschlossen hinter den Aufruf gestellt, dann wäre mehr Unterstützung weltweit zusammengekommen".

Auch der Leiter der globalen Risiko-Bewertung des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik, Jean-Marc Rickli, betont: "Damit ist möglicherweise eine große Chance für eine etwas friedlichere Welt verspielt worden." Die USA und China dominierten das internationale politische System - und somit die UN. "Das Ganze ist eine harte Machtpolitik und reflektiert das oftmalige Versagen der UN, sich kollektiv auf Lösungen für globale Herausforderungen zu einigen."

Wichtige Stationen seit 1945 im Überblick:

1945: Am 26. Juni unterzeichnen Vertreter von 50 Staaten in San Francisco die UN-Charta. Die Verfassung der UN tritt am 24. Oktober in Kraft.

1946: Der Norweger Trygve Lie wird erster UN-Generalsekretär.

1948: Die UN-Vollversammlung nimmt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an.

1953: Der Schwede Dag Hammarskjöld wird zweiter UN-Generalsekretär.

1961: Nach dem Tod Hammarskjölds bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz in Afrika wird U Thant aus Birma (heute Myanmar) Generalsekretär.

1966: Der Pakt über soziale und wirtschaftliche Rechte sowie der Pakt über bürgerliche und politische Rechte werden angenommen. Beide Menschenrechtsabkommen treten 1976 in Kraft. 

1973: Am 18. September werden beide deutsche Staaten in die UN aufgenommen.

1990: Der UN-Sicherheitsrat sendet ein Ultimatum an den Irak, sich aus Kuwait zurückzuziehen. Die spätere militärische Befreiung Kuwaits ist durch ein UN-Mandat gedeckt.

1992: In Rio de Janeiro findet der UN-Gipfel zu Umwelt und Entwicklung statt.

1993: Das Amt des UN-Hochkommissars für Menschenrechte wird eingerichtet.

1994: Völkermord in Ruanda. Trotz einer UN-Friedenstruppe im Land wurden fast eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu ermordet.

2000: Beim UN-Millenniumsgipfel in New York beschließt die Staatengemeinschaft weitreichende Entwicklungsziele. Die Zahl der Armen und Hungernden soll bis 2015 halbiert werden.

2001: Die UN und Generalsekretär Kofi Annan erhalten den Friedensnobelpreis.

2003: Eine US-geführte Koalition führt ohne UN-Mandat Krieg gegen den Irak. Die UN geraten in eine schwere Krise.

2006: Die UN gründen den Menschenrechtsrat.

2011: Der Syrien-Konflikt beginnt, die UN können das Morden nicht stoppen.

2015: Auf einem UN-Gipfel im September in New York beschließt die Staatengemeinschaft 17 Nachhaltigkeitsziele. Bis 2030 sollen Hunger und extreme Armut der Vergangenheit angehören. Am 24. Oktober feiern die UN ihren 70. Geburtstag.

2015: In Paris einigen sich 195 Staaten auf ein neues universelles  Abkommen zum Klimaschutz

2016: Die UN richten im Mai in Istanbul den ersten humanitären Weltgipfel aus. Rund 123 Millionen Menschen sind Opfer von Konflikten, Vertreibung und Naturkatastrophen.

2017: Der Portugiese António Guterres wird neunter UN-Generalsekretär. Donald Trump wird Präsident der USA. In Trumps Amtszeit verlassen die USA den UN-Menschenrechtsrat und die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco). Die USA kündigen das Atomabkommen mit dem Iran und das Pariser Klimaabkommen.

2018: In Marrakesch (Marokko) wird der Globale Migrationspakt der UN angenommen. In New York einigen sich die Staaten auf den UN-Flüchtlingspakt. 

2018: Ende des Jahres befanden sich laut den UN fast 71 Millionen Menschen auf der Flucht.  Das war die höchste jemals erfasste Zahl.

2020: Angesichts der Ausbreitung des neuen Corona-Erregers ruft die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Januar den internationalen Gesundheitsnotstand aus.

2020: Im März stuft die WHO den Corona-Ausbruch als Pandemie ein. UN-Generalsekretär Guterres veröffentlicht einen Aufruf zu einem globalen Waffenstillstand, um alle Kräfte auf den Kampf gegen die Pandemie zu konzentrieren. Im Mai kündigt US-Präsident Trump den Abbruch der Beziehungen zur WHO an.