"Jeder von uns hat die Prozesse gewollt"

Nürnberg (epd). "Es war eine ganz gewöhnliche Tour", erinnert sich der 97-jährige Ernest Lorch. Vor 75 Jahren kam er mit seinem Militärkonvoi von Luxemburg nach Nürnberg. Aber er weiß natürlich, dass er mit dieser "Tour" im November 1945 an einem Stück Weltgeschichte beteiligt war. Denn der gebürtige Nürnberger Jude kam in seine Heimatstadt als US-Soldat zurück - und transportierte hochrangige gefangene Nazi-Funktionäre zu den Nürnberger Prozessen, darunter Reichsmarschall Hermann Göring, Botschafter Franz von Papen, Rüstungsminister Albert Speer, den Generalgouverneur für Polen, Hans Frank, und den Nürnberger Gauleiter und Hetzer Julius Streicher.  

Viele Details sind Lorch noch präsent. Streicher hätte er gern einen Tritt verpasst: "Aber das habe ich nicht gemacht", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Telefon. Göring sei "noch auf Drogen gewesen". Der Gefangenentransport habe den unzerstörten Nürnberger Justizpalast umrunden müssen, um dann über eine Gasse das Gefängnis zu erreichen. Ein Feldwebel quittiert seine besondere Fracht lapidar mit: "22 lebende Menschen". "Dann war für mich alles erledigt." 

Am 20. November 1945 beginnt dann der Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 24 NS-Schergen. Die vier Siegermächte haben ein Internationales Militärtribunal geschaffen, um ranghohe Vertreter des NS-Staates anzuklagen und zu verurteilen. Sie legen damit den Grundstein für das moderne Völkerrecht. Die zentralen Anklagepunkte lauten: Verbrechen gegen Frieden und gegen die Menschlichkeit, Führung von Angriffskriegen, Verbrechen gegen feindliche Truppen und Zivilbevölkerung. Der Massenmord an den Juden war kein eigener Anklagepunkt, er wurde vor allem unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt.

"Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank", notierte damals Erich Kästner in einem Artikel für die "Neue Zeitung". "Riesengroß und unsichtbar sitzen sie neben den angeklagten Menschen."

US-Soldat Ernest Lorch bekommt nach der Ankunft in Nürnberg ein Zimmer mit Bettlaken und eigenem Bad im prächtigen Grand Hotel, wie er sich erinnert. Dann habe er sich die Altstadt angeschaut - auch die Stelle, wo neben dem mittelalterlichen Nassauer Turm das Juweliergeschäft seines Vaters war: Hier ist der jüdische Junge, Jahrgang 1923, einige Jahre zuvor behütet aufgewachsen. Sein Vater Fritz führte das vom Großvater eröffnete Juweliergeschäft weiter. "Ich bin in der Schule oder auf der Straße niemals als Jude beleidigt worden", sagt er im Rückblick. Familie Lorch dachte auch nach den 1935 verabschiedeten Nürnberger Rassegesetzen nicht an Flucht. "Unser Leben war einigermaßen normal, das Geschäft ging relativ gut."

Die trügerische Ruhe ändert sich schlagartig mit der Reichspogromnacht. Der 15-Jährige besucht eine Schule in Berlin, als ein Telefonanruf ihn eilig nach Haus holt: Sein Vater, mittlerweile mit US-Visum in der Tasche, wird von der SA aus einem Krankenhaus gezerrt. Und totgeprügelt. Kurz darauf verlassen seine Mutter und er Deutschland. In den USA war ihm klar: "Ich will unbedingt gegen die Nazis kämpfen." 1945 steht er als GI in seiner zerstörten früheren Heimatstadt - froh, dass die Alliierten den Krieg gewonnen haben. 

Der erste Nürnberger Prozess endete am 1. Oktober 1946 mit zwölf Todesurteilen durch Erhängen, drei lebenslangen sowie vier langjährigen Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen. Mit den Kriegsverbrecher-Prozessen war Nürnberg auch der Geburtsort des modernen Völkerstrafrechts. Schon 1950 formulierte die Völkerrechtskommission mit den "Nürnberger Prinzipien" einen zentralen Baustein dafür. Alle internationalen Gerichtshöfe und Tribunale sowie insbesondere der Internationale Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag gründen sich auf diese sieben Prinzipien. 

Auf dieser Grundlage wurde auch die "Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien" in Nürnberg gegründet. Sie unterstützt den Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen das Völkerrecht und will die Durchsetzung dieser Prinzipien fördern. Seit ein paar Wochen arbeitet die Stiftung aus dem Ostflügel des Nürnberger Justizpalastes heraus - in unmittelbarer Nähe des Schwurgerichtssaals 600, wo der erste Kriegsverbrecherprozess stattfand. Seit diesem Jahr ist der Saal vom regulären Gerichtsbetrieb abgekoppelt. Er steht nun ausschließlich dem Memorium Nürnberger Prozesse, einer Informations- und Dokumentationsstätte am historischen Ort, als Herzstück zu Verfügung.

Auch Ernest Lorch hat diesen historischen Schwurgerichtssaal bei einem seiner späteren Nürnberg-Besuche in Augenschein genommen. Die Prozesse - "jeder von uns hat die Prozesse gewollt" - verfolgte der 22-jährige US-Soldat aber aus der Ferne. Bereits im Dezember 1945, kurz vor Weihnachten, war er wieder zurück in seiner neuen Heimat Amerika: "Ich war nicht dabei, aber es waren gute Urteile." 

Bei den Nürnberger Prozessen (1945-1949) standen erstmals in der Weltgeschichte führende Repräsentanten eines Staats für ihre Verbrechen vor einem internationalen Gericht. Bereits am 18. November 1945 hatte der Internationale Militärgerichtshof in Berlin das Strafverfahren gegen ranghohe Vertreter des nationalsozialistischen Terrorregimes eröffnet. Zwei Tage später begann in Nürnberg der Hauptkriegsverbrecherprozess. Die alliierten Richter sprachen nach knapp einem Jahr, am 30. September und 1. Oktober 1946, zwölf Todesurteile, sieben Haftstrafen - davon mehrere lebenslange - und erließen drei Freisprüche.

Außenminister Joachim von Ribbentrop, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, und der Franken-Gauleiter und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes "Der Stürmer", Julius Streicher, gehörten zu denen, die die Todesstrafe erhielten. Hermann Göring, der zweite Mann im NS-Staat, kam seiner Hinrichtung durch Suizid zuvor.

Bis April 1949 trat im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizgebäudes dann ein US-amerikanischer Militärgerichtshof zusammen, um in zwölf Nachfolgeprozessen über weitere NS-Verbrechen zu urteilen.

Auf der Anklagebank saßen in diesen Folgeprozessen SS- und Lagerärzte, Juristen, Militärs, Diplomaten, SS-Angehörige, Bankiers und Regierungsbeamte. Auch Industrielle mussten sich für ihre Verstrickung mit dem NS-Regime vor Gericht verantworten, im IG-Farben-Prozess und im Krupp-Prozess. In den Anklagepunkten folgten die Nachfolgeprozesse weitgehend dem Hauptkriegsverbrecherprozess: Verschwörung gegen den Weltfrieden, Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Den Richtern ging es vor allem darum, den Angeklagten eine aktive Beteiligung nachzuweisen, zu belegen, dass sie persönlich Verantwortung trugen oder trotz des Wissens um die Verbrechen untätig geblieben waren. In den Nachfolgeprozessen verhängte der US-amerikanische Militärgerichtshof 25 Todesurteile, von denen 13 vollstreckt wurden. Die übrigen Todesurteile wurden in Freiheitsstrafen umgewandelt.

117 Menschen wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, darunter 20 zu lebenslangen. In den 50er Jahren begnadigte der US-Hochkommissar John McCloy einen Großteil der zu Haftstrafen Verurteilten.