"Ich will dazu ermutigen, in realistischen Utopien zu denken"
Hannover (epd). Die hannoversche Sozialpsychologin Christine Morgenroth will dazu ermutigen, angesichts komplexer politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen positive Utopien zuzulassen. Denn sie sind keine Illusionen, sondern geben Hoffnung auf Veränderung, ist die Professorin an der Leibniz Universität Hannover im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) überzeugt. Morgenroth, die viele Projekte gemeinsam mit ihrem Mann, dem 2024 verstorbenen Sozialphilosophen Oskar Negt, realisierte, beobachtet gerade in Krisenzeiten bei vielen Menschen einen Rückzug ins Private. Dabei wäre gerade jetzt eine couragierte und tatkräftige Zivilgesellschaft nötig, meint sie.
epd: Frau Morgenroth, die Bundestagswahl liegt hinter uns, die Sondierungsgespräche laufen. Laut der Wahlforscher von Infratest dimap sind die Wähler mit einer „unsicheren, beunruhigten, pessimistischen Grundstimmung“ an die Urne getreten. Wie nehmen Sie die Stimmung in Deutschland wahr?
Christine Morgenroth: Der Blick auf die Stimmenverteilung zeigt eine höchst beunruhigende Tendenz: Die Parteien, die seit Jahrzehnten dafür stehen, eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen aktiv zu verfolgen, SPD und Grüne, haben dramatisch an Zustimmung verloren, wohingegen die konservative CDU und vor allem die AfD stattliche Erfolge einfahren konnten. Zudem zeigt ein Blick auf die politische Landkarte eine klare Spaltung des Landes in schwarz und blau, die östlichen Bundesgebiete haben eine reine AfD-Mehrheit an Zweitstimmen.
Das bedeutet nichts anderes, als dass rückwärtsgewandte, nationale bis nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch sind. Kräfte, die die globale Perspektive vernachlässigen, demokratische Werte und Strukturen verachten und politisches Handeln vorrangig auf nationale Belange und die nächsten Wahlen orientieren. Es bedeutet die weitere Reduktion sozialstaatlicher Errungenschaften. Und es bedeutet eine zunehmende Gefährdung der Sicherheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit familiären Wurzeln in den unterschiedlichsten Regionen dieser Welt. Ich empfinde den Gedanken als unerträglich, dass sie sich nicht mehr sicher fühlen können bei uns.
epd: Rechtsruck, Demokratiekrise, Klimawandel, Krieg: Viele Menschen reagieren auf die überfordernde Nachrichtenlage mit dem Rückzug ins Private. Ist dieses Sich-Wegducken psychologisch betrachtet ein typisches Verhalten?
Morgenroth: Seit Langem ist zu beobachten, dass die gesellschaftliche Situation sowie die Gefährdung des Planeten eine höchst komplexe Gesamtlage ergibt, die die Menschen beunruhigt. Die Folge sind Vermeidungsstrategien und psychologische Abwehrmechanismen. Sie sollen dabei helfen, Hilflosigkeit und Angst zu reduzieren oder diese Gefühle ganz unterbinden. Realen Fakten wird die Bedeutung entzogen. Der typische Satz dazu lautet: „Es wird schon nicht so schlimm werden…“
Es ist eine menschliche Fähigkeit, sich vor drohendem Unheil durch diese Form der Abwehr zu schützen. Geschieht das aber dauerhaft, erfolgt die Realitätswahrnehmung nur noch verzerrt, die Urteilskraft wird eingeschränkt, die kognitiven Fähigkeiten werden getrübt. In unserem Fall führt die leugnende Abwehr dazu, den falschen Propheten zu folgen, die leichte Lösungen versprechen: Ausländer raus, Grenzen schließen, EU verlassen. Diese Positionen haben Anziehungskraft, indem sie Komplexität reduzieren - bis hin zu betrügerischen Falschbehauptungen, also Lügen.
Die Verbreiter solcher Fakes erwarten Gefolgschaft, bieten dafür aber Zugehörigkeit zu einem scheinbar wichtigen, größeren Zusammenhang an. Zudem stellen sich dominante Führungspersönlichkeiten zur Verfügung, sich mit ihnen zu identifizieren. Das entlastet von persönlicher Verantwortung und delegiert alle heiklen ethisch-moralischen Fragen an das Führungspersonal.
epd: Das klingt nach Ohnmacht. Was kann der Einzelne tun, um sich daraus zu befreien?
Morgenroth: Ich will dazu ermutigen, in realistischen Utopien zu denken. Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte haben es sich Menschen verbieten lassen, über die bessere Gestaltung ihres Lebens nachzudenken. Utopien sind keine Illusionen, sie stehen für Hoffnung auf Veränderung. Sie geben Orientierung und zeigen die Richtung dieser Veränderung an. Sie sind keine illusionären Entwürfe einer neuen Gesellschafts- oder gar Weltordnung, sondern bezeichnen eine couragierte Denkbewegung, die sich, wie der Philosoph Ernst Bloch betonte, dem „Noch-Nicht-Gewordenen“, aber Möglichen widmet.
In diesem Punkt haben die traditionellen Parteien bislang versagt. Es fehlt ihnen die Phantasie, in die Richtung realistischer Utopien zu denken. Es ist ihnen nicht gelungen, eine neue Zukunftserzählung zu präsentieren, in der etwa ein gewisses Maß an Verzicht - in den westlichen Staaten - als notwendig benannt wird zugunsten des Überlebens des größeren Teils der Menschheit. Zu diesem Narrativ gehören konkrete Themen, wie Verteilungs- und Geschlechtergerechtigkeit, Grenzen des Wachstums und die Reduktion des CO2-Ausstoßes, also der schnellen Begrenzung der Erderwärmung. Voraussetzung dafür sind allerdings demokratische Strukturen, die es zu verteidigen und zu erhalten gilt.
. epd: Was genau bewirken die von Ihnen beschriebenen positiven Utopien bei den Menschen?
Morgenroth: Sie bewirken Zuversicht - und aus dieser Quelle erwächst ein Motiv zum Handeln. Sie sind das Gegenteil des kurzschlüssigen Denkens, das sich ausschließlich an Gefühle wendet, und das dumpf bleibt wie bei allen rechtsnationalen und populistischen Bewegungen, die jetzt allenthalben erstarken.
Aus Utopien können aktive Handlungsschritte erfolgen, so wie wir es etwa bei den zahlreichen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus gesehen haben. Es ist wichtig, gegen die apokalyptischen Reiter die Möglichkeit des Besseren zu setzen. Diese kann darin bestehen, sich zusammenzuschließen und gemeinsam zu vergewissern. Sozialer Zusammenhalt stärkt und ermutigt, das erwünschte Ziel gemeinsam anzusteuern. Utopien helfen jedem Einzelnen, sie stärken die sozialen Widerstandskräfte. Und die sind dringend nötig, um eine demokratische Gesellschaft nicht im autoritären Sumpf versinken zu lassen, der bereits mehr als einmal im Faschismus geendet ist.