"Ich habe jede Nacht gebetet, dass ich überlebe"
Heilbronn (epd). Wenige Tage vor Kriegsausbruch läuft im Leben von Anastasiia Zaieva aus Charkiw in der Ostukraine noch alles nach Plan: Die Deutsch-Studentin hat ein Online-Vorstellungsgespräch bei der Evangelischen Tagungsstätte in Löwenstein (ETL) (Landkreis Heilbronn) für eine Stelle für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). Über das „Incoming“-Programm der Diakonie in Baden und Württemberg haben junge Menschen aus aller Welt die Möglichkeit, ein Jahr in einem sozialen Dienst Erfahrungen zu sammeln, Menschen kennen zu lernen und zugleich etwas Nützliches zu tun.
Zaieva findet es attraktiv, bei der Planung von Seminaren mithelfen zu können, Referentinnen und Referenten zu betreuen und die Homepage der Tagesstätte zu pflegen und hat sich deshalb bei der ETL beworben. Noch im Gespräch erhält sie eine Zusage für ein Freiwilliges Soziales Jahr.
Doch dann wird sie am 24. Februar um 5.10 Uhr aus dem Schlaf gerissen: „Wir hörten das Einschlagen von Raketen und unsere Fensterscheiben wackelten.“ Militärgebäude in der ganzen Ukraine werden beschossen. Die 20-Jährige ist schockiert: „Wir waren nicht vorbereitet auf einen Krieg, weil wir dachten, dass es nicht sein kann, dass im 21. Jahrhundert noch einmal ein Krieg in Europa ausbricht.“ Drei Tage und Nächte saß sie im Keller ihres Hochhauses. „Ich habe jede Nacht gebetet, dass ich überlebe“, sagt die junge Frau mit den langen, glatten Haaren.
Als sie erfährt, dass auch das Rathaus der zweitgrößten Stadt der Ukraine zerschossen ist, das sich nur wenige Meter von ihrer Universität befindet, bekommt sie Angst: Wird bald auch ihr Haus getroffen? Es gab keinen Strom, kein Mobilfunknetz, und die Russen kamen in dieser Zeit mit ihrem Beschuss dem großen Atomkraftwerk in Sporischschja gefährlich nahe. Für sie ist klar: Sie muss das Land verlassen.
„Wir waren zutiefst betroffen, als wir die Nachricht von Anastasiia erhielten, dass es Explosionen gibt und wir für sie beten sollen“, sagt Beate Hanke, Mitarbeiterin der Bildungsabteilung der Evangelischen Tagungsstätte. „Unsere Leiterin Frau Bachteler sagte dann, wenn Frau Zaieva es irgendwie hinbekommt zu fliehen, dann nehmen wir sie auch früher auf, wir bekommen das hin.“
Anastasiia Zaieva packt ihren Wanderrucksack und flieht. Für sie ist es ein Wunder Gottes, dass ihre Nachbarin sie mit dem Auto ans andere Ende der Stadt zum Bahnhof fährt - in einer Zeit, in der viele Menschen Unsummen von Geld für solche Autofahrten von Fluchtwilligen nehmen. Nach 13 Stunden Warten in Eiseskälte vor dem Bahnhof geht die chaotische Reise los. Vier Tage später kommt die völlig übermüdete Ukrainerin in Löwenstein an und darf erst einmal drei Wochen lang bei der Familie von Beate Hanke ankommen.
Seit einigen Tagen wohnt sie in der Evangelischen Tagungsstätte mit anderen internationalen FSJlern aus Georgien und Indonesien zusammen - alles aufregend für Zaieva, die bisher noch nie im Ausland war. Bevor sie im Herbst ihr FSJ beginnt, will sie ihr Studium abschließen und hilft bereits als Übersetzerin aus, wo sie gebraucht wird.
Beispielsweise war sie vor Kurzem in der Evangelischen Gemeinde in Affaltrach bei einem Begegnungstreffen, bei dem sie zwischen deutschen ehrenamtlichen Helfern und ukrainischen Flüchtlingen übersetzt hat. „Ich helfe sehr gerne zu übersetzen und bin so froh, dass ich zwischen den Sprachen und Kulturen vermitteln kann.“
Anastasiia Zaieva sieht in dem FSJ auch für andere ukrainische Landsleute eine gute Möglichkeit, in Deutschland anzukommen und sich zu integrieren - vorausgesetzt sie können wie sie bereits etwas Deutsch.
Bisher bewerben sich noch nicht mehr Menschen aus der Ukraine als sonst auf ein FSJ, sagen die Diakonie in Baden und Württemberg dem Evangelischen Pressedienst (epd) auf Anfrage. Aber sie rechnen damit, dass sich in den kommenden Monaten mehr Geflüchtete aus der Ukraine für einen Freiwilligendienst interessieren werden.
„Darauf stellen wir uns ein, indem wir etwa bei Stellen mit Unterkünften, die wir sonst an Menschen aus aller Welt vergeben, ein gewisses Kontingent für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine vorhalten“, sagt Christian Könemann, Pressesprecher der Diakonie in Baden. Allerdings würde auch von Geflüchteten vor Dienstantritt grundlegende Deutschkenntnisse erwartet, damit sie mit den Menschen sprechen können, für die sie sich engagieren wollen. „Auch deshalb braucht es etwas Zeit, bevor ein Freiwilligendienst denkbar ist.“