Historiker Wagner: Neue Form der Erinnerungskultur dringend nötig

Celle (epd). Der Historiker Jens-Christian Wagner plädiert mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg für eine Erneuerung der Erinnerungskultur. Aktuell stehe zu stark der mantraartig vorgetragenen Appell, sich erinnern zu sollen, im Mittelpunkt, sagte der scheidende Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dabei würden der Nationalsozialismus und seine Verbrechen angesichts des zeitlichen Abstandes zwangsläufig historisiert: "Erinnern im eigentlichen Wortsinn kann man sich doch aber nur an etwas, was man selbst erlebt hat."

Wer aus der Geschichte lernen wolle, solle zudem nicht nur um die Opfer trauern, ergänzte Wagner. Gedenkstätten sollten sich viel stärker als bisher mit der Motivation der Täter, Mittäter und Profiteure der NS-Verbrechen auseinandersetzen. Das schließe den Blick auf die Funktionsweise der NS-Gesellschaft ein, die radikal rassistisch organisiert gewesen sei und durch die Wechselwirkung zwischen Integrationsangeboten an die sogenannten "Volksgenossen" und der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der "Gemeinschaftsfremden" geprägt gewesen sei.

"Diese Funktionsweisen gesellschaftsgeschichtlich in den Blick zu nehmen erlaubt es, jenseits falscher historischer Analogiebildungen Aktualitätsbezüge zu heutigen Ausgrenzungs- und Kriminalisierungsdiskursen und -praktiken herzustellen", betonte der Historiker. Mit geschärftem Geschichtsbewusstsein und historischem Urteilsvermögen würde es möglich, die Gegenwart besser zu verstehen und damit heutigen Verletzungen von Menschenrechten und Gefährdungen der Demokratie historisch und ethisch fundiert entgegentreten zu können. 

Gerade Gedenkstätten müssten daher nicht zuletzt wegen des deutlichen Erstarkens von Nationalismus, Demokratiefeindlichkeit und Rassismus in ganz Europa deutlicher als bisher im Sinne historisch-politischer Interventionen in die Gesellschaft hineinwirken, forderte Wagner. Aus der Geschichte heraus wissenschaftlich fundiert zu argumentieren erlaube es, auch in aktuellen Debatten Haltung zu beziehen "gegen alle Versuche, die NS-Verbrechen kleinzureden oder gar zu leugnen, aber auch gegen aktuelle Formen rassistischer Hetze gegen Minderheiten". 

Wagner hatte im September 2014 die Leitung der in Celle ansässigen Gedenkstätten-Stiftung übernommen. Anfang Oktober wechselt er als Professor für "Geschichte in Medien und Öffentlichkeit" an die Universität Jena. Seine Nachfolge als neue Chefin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten soll zum Jahresbeginn 2021 die Politikwissenschaftlerin Elke Gryglewski antreten.

Das Interview im Wortlaut:

epd: Her Wagner, vor welchem Problem steht die Gedenkstättenarbeit aktuell?

Jens-Christian Wagner: Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen werden angesichts des zeitlichen Abstandes zwangsläufig historisiert. Deshalb bin ich auch für eine Erneuerung der Erinnerungskultur. Meines Erachtens stellt sie zu stark den mantraartig vorgetragenen Appell, sich "erinnern" zu sollen, in den Mittelpunkt. Erinnern im eigentlichen Wortsinn kann man sich doch aber nur an etwas, was man selbst erlebt hat.

epd: Und das können die heutigen Generationen nicht mehr?

Jens-Christian Wagner: An was sollen sich 16-jährige Schülerinnen und Schüler, deren Großeltern den Nationalsozialismus aus generationellen Gründen schon nicht mehr selbst erlebt haben, beim Besuch einer Gedenkstätte erinnern? Auf sie wirkt der Appell, sich erinnern zu sollen, als Überforderung, die zusätzlich auch noch moralisch aufgeladen ist. An die Stelle des Erinnerns möchte ich daher die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte setzen - fachlich fundiert, sachlich informiert und nach allen Regeln der Quellenkritik. 

epd: Wie können Gedenkstätten dabei unterstützen?

Jens-Christian Wagner: Wir sollten, wenn wir aus der Geschichte etwas lernen wollen, nicht nur um die Opfer trauen, sondern uns viel stärker als bisher mit der Motivation der Täter, Mittäter und Profiteure der NS-Verbrechen auseinandersetzen - und mit der Funktionsweise der NS-Gesellschaft, die radikal rassistisch organisiert war und sich durch die Wechselwirkung zwischen Integrationsangeboten an die sogenannten "Volksgenossen" einerseits und der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der "Gemeinschaftsfremden" andererseits auszeichnete.

epd: Was würde dieser Blick auf die Täter und ihre Gesellschaftsstrukturen offenbaren?

Jens-Christian Wagner: Diese Funktionsweisen gesellschaftsgeschichtlich in den Blick zu nehmen erlaubt es, jenseits falscher historischer Analogiebildungen Aktualitätsbezüge zu heutigen Ausgrenzungs- und Kriminalisierungsdiskursen und -praktiken herzustellen. Denken Sie etwa an die Hetze gegen angeblich kriminelle Migrantinnen und Migranten. Das Ziel ist es, mit geschärftem Geschichtsbewusstsein und historischem Urteilsvermögen unsere Gegenwart besser zu verstehen und damit heutigen Verletzungen von Menschenrechten und Gefährdungen der Demokratie historisch und ethisch fundiert entgegentreten zu können. 

epd: Sollten dann nicht Historiker ihr Wissen aktiver einbringen? 

Jens-Christian Wagner: Ich glaube, wir müssen in den Gedenkstätten nicht zuletzt wegen des deutlichen Erstarkens von Nationalismus, Demokratiefeindlichkeit und Rassismus in ganz Europa deutlicher als bisher im Sinne historisch-politischer Interventionen in die Gesellschaft hineinwirken. Dabei muss es immer darum gehen, wissenschaftlich fundiert aus der Geschichte heraus zu argumentieren. Das erlaubt es, auch in aktuellen Debatten Haltung zu beziehen, selbstverständlich gegen alle Versuche, die NS-Verbrechen kleinzureden oder gar zu leugnen, aber auch gegen aktuelle Formen rassistischer Hetze gegen Minderheiten - aus der AfD, aber auch aus anderen Parteien oder Organisationen.

epd: Was könnte historisches Urteilsvermögen beispielsweise Verschwörungstheoretikern entgegnen?

Jens-Christian Wagner: Der Blick in die Geschichte offenbart uns, dass die heutigen Verschwörungslegenden, insbesondere um Corona, nahtlos an ältere antisemitische Hetznarrative anschließen. Q-Anon erinnert fatal an die Legende vom jüdischen Ritualmord, und der Mythos, Bill Gates und George Soros sowie ihre finsteren Hintermänner im "Deep state" strebten mit der Corona-Pandemie, Zwangsimpfungen und Chip-Implantaten die Weltherrschaft einer geheimen verschwörerischen Elite an, ist im Grunde nur eine Neuauflage der von Antisemiten erfundenen "Protokolle der Weisen von Zion".

epd: Was folgt daraus, diese Parallelen aufzuzeigen?

Jens-Christian Wagner: Hier können wir mit historisch-politischer Bildung und mit der guten alten Ideologiekritik Aufklärung betreiben. Grundlage sind die Vermittlung historischen Wissens, historisches Urteilsvermögen und Medienkompetenz - denn die meisten dieser Verschwörungslegenden gedeihen im Netz und werden von vielen nicht hinterfragt und geglaubt.

epd: Nun wechseln Sie nach Jena. Welche Chancen sehen Sie, von ihrer neuen Position aus derartige Arbeit leisten zu können? 

Jens-Christian Wagner: Die Verbindung der Professur mit der Leitung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora bietet in idealer Weise die Möglichkeit, universitäre Forschung und Lehre mit der praktischen Umsetzung neuer Inhalte und Vermittlungsformate in den Gedenkstätten zu verbinden. In den Themengebieten Zeitgeschichte und Rechtsextremismus ist die Universität Jena hervorragend aufgestellt. Deshalb erhoffe ich mir auch neue Impulse für unsere Arbeit und eine Erneuerung der Erinnerungskultur aus dem interdisziplinären Diskurs mit den Kollegen und Kolleginnen verschiedener Fachgebiete in der Universität.