Historiker: Der 8. Mai 1945 war für viele eine Befreiung wider Willen

Celle (epd). Der Leiter der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, Jens-Christian Wagner (53), hat sich dafür ausgesprochen, den Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands am 8. Mai 1945 zu einem Gedenktag zu machen. Für ein differenziertes Bild sei es nötig, auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld zu suchen, sagte der Historiker dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Der 8. Mai ist als Tag der militärischen Niederlage für viele Deutsche ein Tag der Befreiung wider Willen gewesen." Wagner warnte zugleich vor einer gesellschaftlichen Diskursverschiebung nach rechts: Äußerungen von AfD-Fraktionschef Alexander Gauland über das Dritte Reich als "Vogelschiss" oder Björn Höckes Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" stellten einen Rückfall in Abwehrreflexe der Nachkriegszeit und Geschichtsrevisionismus dar. 

Bei der Beurteilung des Tages kommt es Wagner zufolge auf die Perspektive an: "Befreiung klingt ein wenig so, als sei der Nationalsozialismus eine Fremdherrschaft gewesen, von der die Deutschen befreit worden sind." Tatsächlich aber sei die deutsche Gesellschaft vom Nationalsozialismus stark durchdrungen gewesen. "Befreien kann man ja eigentlich nur jemanden, der unterdrückt wird", sagte er. Die Furcht vor der Rache der Sieger sei der Kitt gewesen, der die Kriegsgesellschaft zusammengehalten habe, auch wenn viele am Ende nicht mehr ideologisch vom Nationalsozialismus überzeugt gewesen seien.

Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag, in der er betonte, dass der 8. Mai ein "Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gewesen sei, stellte Wagner zufolge einen wichtigen Meilenstein für die Entwicklung einer aufgeklärten Erinnerungskultur dar. "Deutlich zu sagen, dass die Alliierten Deutschland vom NS-Terror befreit haben, war auch 1985 ein Akt der Befreiung von der bis dahin starken Abwehrhaltung in der westdeutschen Gesellschaft, sich mit den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen", sagte der Historiker.

Dass heute wieder Diskussionen um einen "Schuldkult" aus Teilen der AfD und von Rechtsextremen kämen, zeige, dass es um den Kern des deutschen Geschichtsverständnisses gehe, erklärte Wagner. Es bereite ihm große Sorgen und sei zynisch, wenn "Verächter der Demokratie", auch aus AfD- und Verschwörungslegenden-Anhängern, unter dem Vorwand des Grundrechteschutzes auf die Straße gingen.

Der Historiker sagte, er unterstütze die Forderung etwa der KZ-Überlebenden Esther Bejarano, den Jahrestag des Kriegsendes zum Gedenktag zu machen. Es gehe dabei sowohl um Trauer um die vom NS-Regime Getöteten, als auch um die Freude, dass der von Deutschland ausgehende Krieg endete. Zugleich sei er ein Tag des Dankes gegenüber den Alliierten und Widerstandskämpfern.

Das Interview im Wortlaut: 

epd: Herr Wagner, was stört Sie daran, den 8. Mai als "Tag der Befreiung" zu bezeichnen?

Jens-Christian Wagner: Das klingt, als sei der Nationalsozialismus eine Fremdherrschaft gewesen, von der die Deutschen befreit worden sind. Tatsächlich aber war die deutsche Gesellschaft vom Nationalsozialismus durchdrungen. Die meisten Deutschen machten bis zum Kriegsende mit. Befreien kann man eigentlich nur jemanden, der unterdrückt wird und nicht selbst Täter ist. Wovon sollten daher die Millionen Täter und Mittäter in Deutschland befreit worden sein? Sie wurden doch eher besiegt als befreit, und das war gut so.

epd: Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach am 8. Mai 1985 vom "Tag der Befreiung" vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Lag er damit begrifflich also falsch?

Jens-Christian Wagner: Nein. Für die Entwicklung einer aufgeklärten Erinnerungskultur war von Weizsäckers Rede ein ganz wichtiger Meilenstein. Deutlich zu sagen, dass die Alliierten Deutschland vom NS-Terror befreit haben, war 1985 auch ein Akt der Befreiung von einer bis dahin starken Abwehrhaltung in der westdeutschen Gesellschaft, sich mit den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen. Damals hielten viele Deutsche den 8. Mai noch für den Tag der Niederlage. Als Erlösung wurde das Kriegsende nur wahrgenommen, weil damit die Gefahr endete, durch Kriegshandlungen zu Schaden zu kommen oder gar getötet zu werden. Die Furcht vor der Rache der Sieger, die von der NS-Propaganda befeuert wurde, war der Kitt, der die deutsche Kriegsgesellschaft zusammenhielt. 

epd: Ist die Deutung des 8. Mai als "Tag der Befreiung" letztlich eine semantische Spitzfindigkeit? 

Wagner: Nein. Die starken Debatten, auch die beißende Kritik an von Weizsäcker 1985, aber auch diverse Anfeindungen gegen den angeblichen "Schuldkult", wie er seit einigen Jahren aus der AfD und von anderen Rechtsextremen kommt, zeigen, dass es hier um den Kern des Geschichtsverständnisses unserer Gesellschaft und unseres Staates geht.

epd: Rechte Politiker argumentieren häufig, der 8. Mai sei auch deshalb eine Niederlage, weil er zur Vertreibung und zum Verlust von Heimat geführt habe.

Wagner: Die Familie meines Vaters stammt aus Ostpreußen. Der Verlust der Heimat war schmerzlich und sie waren auf der Flucht mit Verbrechen der Sieger, etwa Vergewaltigungen durch Rotarmisten konfrontiert. Aber trotzdem wurde in der Familie nie bezweifelt, dass das NS-Regime ursächlich die Schuld trug.

epd: Die KZ-Überlebende Esther Bejarano und andere fordern seit Jahren einen Gedenktag am 8. Mai.

Wagner: Ich unterstütze diese Forderung absolut. Der 8. Mai sollte begangen werden als Tag der Trauer um die vom NS-Regime Getöteten. Er sollte begangen werden als Tag der Freude, dass der von Deutschland ausgehende Krieg, der unermessliches Leid über Europa brachte, endete. Und er sollte schließlich als Tag des Dankes gegenüber Alliierten und Widerstandskämpfern begangen werden.

epd: Inzwischen sitzen mit der AfD wieder Politiker im Bundestag, von denen viele die Meinungsfreiheit bezweifeln oder sich in einer "Merkel-Diktatur" wähnen.

Wagner: Gaulands Rede vom "Vogelschiss" oder Höckes Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" sind ein Rückfall in Abwehrreflexe und Geschichtsrevisionismus, wie wir sie aus der Zeit vor Weizsäckers Befreiungs-Rede kennen. Dabei war unser Grundgesetz eine unmittelbare Antwort auf den NS-Terror.

epd: Woran liegt dann der Zulauf Rechter in Wahlen und in den sozialen Netzwerken?

Wagner: Allgemein lässt das Bewusstsein über eine kritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen nach, die grundlegend für unsere demokratische Selbstverständigung sind. Der Diskurs hat sich nach rechts verschoben. Heute stehen Verächter der Demokratie, auch aus der AfD, mit Anhängen von Verschwörungslegenden wie "New World Order" oder"Q-Anon" und Corona-Leugnern gemeinsam auf der Straße und geben vor, die Grundrechte schützen zu wollen. Das ist einfach nur zynisch und bereitet mir große Sorgen. Dagegen helfen nur geschichtliche Aufklärung und historisches Urteilsvermögen.