Hilfsorganisationen: Afghanistans Bevölkerung leidet unter Taliban

Düsseldorf/Kabul (epd). In Afghanistan gewinnen die radikal-islamischen Taliban weiter an Boden. Hunderttausende Zivilisten seien in Gefahr, zwischen die Fronten von Regierungstruppen und Aufständischen zu geraten, warnte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz am Dienstag in Kabul. Auch die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet prangerte die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung an. Derweil forderten zahlreiche Menschenrechtsgruppen angesichts der Kämpfe einen sofortigen Abschiebestopp für Afghanen aus Deutschland.

Nach dem Abzug nahezu aller internationalen Truppen haben Taliban-Kämpfer in knapp einer Woche fünf Provinzen eingenommen. Drei weitere Provinzen, darunter Kandahar und Helmand im Süden des Landes, sind schwer umkämpft. Auch die Kämpfe um wichtige Städte des Landes gehen unvermindert weiter. Laut den Vereinten Nationen kontrollieren die Taliban mit Kundus, Sarandsch, Sar-e-Pul, Scheberghan, Taloqan und Aybak 6 der insgesamt 34 Provinzhauptstädte des Landes.

Nach Angaben von Hilfsorganisationen leidet die Zivilbevölkerung zunehmend unter den Kämpfen. In den vergangenen zehn Tagen seien mehr als 4.000 Verletzte in den von ihr unterstützten Kliniken behandelt worden, erklärte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC). In einigen umkämpften Städten sei die Strom- und Wasserversorgung weitgehend zusammengebrochen. „Viele Familien versuchen zu fliehen, aber können entweder keine Transportmöglichkeiten finden oder haben nicht die finanziellen Mittel dazu“, beschrieb das ICRC die Lage.

Derweil warnte die UN-Menschenrechtskomissarin Bachelet vor Menschenrechtsverletzungen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten. Frauen würden ausgepeitscht, wenn sie sich den Regeln der Taliban widersetzten, sagte Bachelet in Genf. Viele Afghaninnen und Afghanen fürchteten zurecht, „dass eine Machtergreifung der Taliban die Fortschritte bei der Achtung der Menschenrechte der vergangenen zwei Jahrzehnte zunichtemachen würde“.

In Deutschland forderten Menschenrechtsgruppen einen Stopp aller Abschiebungen nach Afghanistan. 26 Organisationen, darunter Pro Asyl, „Brot für die Welt“, Caritas und Diakonie, verlangten in einem gemeinsamen Aufruf von der Bundesregierung, geltendes Recht zu achten und Abschiebungen mit dem Ziel Kabul auszusetzen. „Deutschland darf die Augen vor der sich immer weiter verschlechternden Lage in Afghanistan nicht verschließen und muss alle Abschiebungen einstellen“, heißt es in dem Appell.

Auch die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGFD) gehört zu den Unterzeichnerinnen. „Aufgrund des langjährigen militärischen Mitwirkens am Krieg in Afghanistan trägt Deutschland eine besondere Verantwortung für das Land“, sagte AGDF-Geschäftsführer Jan Gildemeister in Bonn. Viele Menschen flüchteten vor Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Armut und Perspektivlosigkeit. „Die soziale Lage ist miserabel, Armutsniveau und Arbeitslosigkeit sind heute sehr wahrscheinlich schlechter als 2001, also zu Beginn des aktuellen Krieges“, betonte er.

Kritik äußerten auch die NRW-Grünen. „An den Abschiebungen festzuhalten ist unerträgliche, innenpolitisch geleitete Symbolpolitik“, sagte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Berivan Aymaz. „Sie hat rein gar nichts zu tun mit vernunft- und menschenrechtsgeleiteter Flüchtlingspolitik.“ Der völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung, der die Abschiebung von Personen in Staaten untersage, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohten, müsse immer gelten.

„Menschenrechte dürfen nicht dem Wahlkampf zum Opfer fallen“, betonte Aymaz. Die NRW-Landesregierung und Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) müssten ihren Handlungsspielraum nutzen und Abschiebungen aussetzen, bis es einen generellen Stopp auf Bundesebene gebe.

Nach UN-Angaben sind seit Anfang des Jahres bis Ende Juni mindestens 1.659 Zivilisten getötet und 3.524 Menschen verletzt worden. Seit Beginn der Offensive der radikal-islamischen Taliban im Mai seien insgesamt 214.000 Afghaninnen und Afghanen vor den Kämpfen geflohen.

Bei Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der Regierung in der katarischen Hauptstadt Doha warnte der US-Sonderbeauftragte Salmai Khalilzad die Aufständischen, keinen militärischen Sieg anzustreben, und drohte mit internationaler Ächtung. Ende August wollen die USA ihren Militäreinsatz in Afghanistan ganz beenden. Fast alle Militärbasen sind bereits an die afghanische Armee übergeben worden. Die Verhandlungen in Doha verliefen bislang ohne Erfolg.