Hass im Netz: "Krisen, Kriege und Ängste sind der Sauerstoff"
Bremen (epd). Nach dem Anschlag von Solingen und den Schüssen vor dem israelischen Generalkonsulat in München geraten einmal mehr die sozialen Netzwerke als Orte islamistischer Radikalisierung in den Fokus. Ansprachen dieser Art haben nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres drastisch zugenommen, sagte die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt, Cornelia Holsten, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein Gespräch mit der Juristin und Medienaufseherin über subtile Beeinflussung, den Sauerstoff radikaler Posts und was jeder Einzelne dagegen tun kann.
epd: Frau Holsten, zunächst einmal zur Einordnung: Welche Rolle spielen Social-Media-Plattformen wie Instagram oder TikTok überhaupt bei der politischen Willensbildung junger Menschen?
Cornelia Holsten: Eine überragende. Jüngere verfolgen das Weltgeschehen fast nur noch über Social-Media-Kanäle. Das ist die Tür, durch die Jugendliche gehen, wenn sie sich politisch informieren wollen. Die gefaltete Zeitung am Morgen im Briefkasten spielt da keine Rolle mehr. Und was die einzelnen Kanäle angeht: Das vom chinesischen Unternehmen ByteDance betriebene Videoportal TikTok ist die am schnellsten gewachsene Social-Media-Anwendung aller Zeiten, ist also zentral. Das nutzen in Deutschland auch Parteien wie die AfD, die genau wissen, wie man den Algorithmus füttern muss, um schnell auffindbar zu sein - hochgradig professionell.
epd: Hat die Medienaufsicht nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres vermehrte Ansprachen mit dem Ziel der Radikalisierung auf sozialen Netzwerken registriert?
Holsten: Auf jeden Fall. In Europa gibt es ein Meldeverfahren der Medienaufsicht gegenüber der EU-Kommission nach dem Digital Services Act. Die deutschen Landesmedienanstalten haben im europaweiten Vergleich die allermeisten und wirklich furchtbare Inhalte mit Gewaltdarstellungen und Gewaltverherrlichung zur Löschung an die EU-Kommission gemeldet. Und man muss sagen, dass generell Krisen und Kriege und in der Folge Gefühle von Unsicherheit und Ängste ein Katalysator für Extremisten sind, die Menschen radikalisieren wollen. Da finden sich viel zu oft Desinformation und Verschwörungsideologien. Krisen, Kriege und die Ängste, die damit verbunden sind, das ist der Sauerstoff von radikalen Posts und Verschwörungsideologen.
epd: Wie vollzieht sich die Beeinflussung und Fanatisierung junger Menschen im Netz konkret? Und wer ist besonders anfällig für solche Beeinflussungen?
Holsten: Das läuft deutlich subtiler als man oft denkt, mit hoch professionellen Videos, was beispielsweise Schnitt und Auflösung angeht. Die Produzenten wissen genau, was zu tun ist, um in die Timeline oder in den Feed der Nutzerinnen und Nutzer zu gelangen. Das schafft man beispielsweise durch reißerische Überschriften, die negative Gefühle ansprechen. Angst, Wut, Empörung - das liebt der Algorithmus. Außerdem führen diese Gefühle in einen emotionalen Zustand, in dem die Menschen dazu neigen, den Verstand auszuschalten und viel leichter auf Weiterleiten und Liken klicken.
epd: Es geht also in erster Linie um Emotionen?
Holsten: Genau. Und die werden meistens mit Inhalten angesprochen, die entweder legal sind oder sich maximal am Rande der Legalität bewegen. Diejenigen, die das produzieren, wissen sehr genau, was noch geht und was nicht. Die Ansprache ist unaufgeregt, das fühlt sich harmlos an. Da steht nicht zwangsläufig einer schwer bewaffnet vor der Kamera und sagt, so, jetzt ziehen wir los. Auf diese Weise wachsen die Leute in die Radikalisierung rein, es werden ihnen immer mehr vergleichbare ideologische Inhalte in die Timeline gespült.
epd: Da geht es dann auch darum, Beziehungen aufzubauen?
Holsten. Absolut. Und die wird auch hergestellt, weil die Zielgruppe auf Augenhöhe angesprochen wird, das ist quasi ein Gespräch unter Freunden. Dazu kommt noch ein Aspekt, der ganz allgemein eine Rolle spielt, wenn es um Populismus und Extremismus geht: In einer Welt, die kompliziert ist, haben immer Menschen Sehnsucht nach einfachen Antworten. Die werden dann geliefert, verbunden mit einem Gefühl von Zuverlässigkeit, Sicherheit, Zugehörigkeit, Vertrauen. So entstehen Beziehungen, die häufig noch mit einem weiteren Punkt zu tun haben, der bei den Themen Extremismus und Islamismus wichtig ist, nämlich Einsamkeit. Menschen möchten einfache Antworten und möchten dazugehören. Das gilt auch für diejenigen, die Diskriminierungserfahrungen gemacht haben und dann aus dieser Verletzung heraus feststellen: Hier wird mir zugehört, hier bin ich einer von den vielen.
epd: Was ist zu tun, um der Radikalisierung im Netz etwas entgegenzusetzen? Braucht es da nicht mehr Überwachung, womöglich Regulierung?
Holsten: Wir haben im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag Vorschriften, die uns beispielsweise erlauben, volksverhetzende, gewaltverherrlichende oder allgemein absolut unzulässige Inhalte zu beanstanden. Aber wir brauchen auch ein gesellschaftliches Umdenken. Wir beobachten, dass die Menschen sich an respektlose, beleidigende und auch strafbare Inhalte auf Social Media gewöhnt haben und resignieren, mit dem Gefühl, dass sie da sowieso nichts gegen machen können. Da kommt dann ein Achselzucken. Desinformation, Hasskommentare und Radikalisierung können sich immer weiterverbreiten, weil die gesellschaftliche Empörung fehlt. Wir müssen die Menschen beispielsweise über Schulungen und Workshops dazu befähigen, diese Dinge nicht einfach so hinzunehmen, das gehört zur Medienkompetenz dazu.
epd: Was müsste noch geschehen?
Holsten: Medienkompetenz betrifft uns alle. Sei es zum Beispiel zu wissen, wo und über welche Accounts ich meine Nachrichten beziehe, woran ich Fake News erkennen oder wie ich mit Hassrede oder drastischen Inhalten umgehen kann. Egal ob Eltern, Schule, Medienanstalt, dafür sind wir alle zuständig. Hier gilt: Viel hilft viel. Das kann auch jeden selbst betreffen, wenn man sieht, dass der Nachbar auf Social Media aktiv Dinge liked, von denen man weiß, dass sie radikaler Blödsinn sind. Dann ist jeder gefragt, eben nicht mit den Schultern zu zucken, sondern die Person anzusprechen und zu sagen: Schau dir das doch mal genauer an. Ich glaube, du bist da auf dem falschen Weg.