Gnadengesuche für Massenmörder

Landsberg am Lech (epd). Karl Morgenschweis, katholischer Priester, begleitet am 7. Juni 1951 in Landsberg am Lech sieben NS-Kriegsverbrecher im 20-Minuten-Abstand in den Tod. „Letzte Worte der Verurteilten, Gebet des Priesters, Lossprechung“, dann öffnet der Henker die Luke unter ihren Füßen, so erinnert sich der Priester später. Es sind die letzten Hinrichtungen von Kriegsverbrechern in Westdeutschland, und in der Öffentlichkeit toben heftige Debatten. Große Teile der Bevölkerung lehnen die Hinrichtungen ab, auch deutsche Politiker und Kirchenvertreter.

Mit dem Grundgesetz ist 1949 die Todesstrafe in der Bundesrepublik abgeschafft worden. Aber die NS-Kriegsverbrecher waren im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal und den zwölf Nachfolgeprozessen, die bis 1949 dauerten, zum Tode verurteilt worden.

In Landsberg, im US-„Kriegsverbrechergefängnis Nummer 1“, werden von November 1945 bis Juni 1951 insgesamt 285 Verurteilte hingerichtet. Zu den letzten gehört vor 70 Jahren Oswald Pohl, Ex-General der Waffen-SS. Der frühere Marineoffizier war als Leiter des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes für die Inspektion aller Konzentrationslager zuständig. Und er leitete persönlich die Zerstörung des Warschauer Ghettos, bei der mehr als 56.000 Juden ums Leben kamen. Auch Georg Schallermair wird am 7. Juni 1951 hingerichtet. Er verantwortete als Rapportführer die Ermordung zahlreicher KZ-Häftlinge in Mühldorf, einem Außenlager des KZ Dachau.

Reue oder gar ein Bekenntnis zur eigenen Schuld ist aus den letzten Worten der Delinquenten nicht herauszulesen. Die „Landsberger Nachrichten“ berichteten, Otto Ohlendorf, SS-General und als Befehlshaber der „Einsatzgruppe D“ in der Sowjetunion für den Tod von Zehntausenden verantwortlich, sei „unverändert fest und unerschütterlich wie immer“ gewesen. SS-Obersturmbannführer Werner Braune rief auf seinem letzten Weg durch den Zellengang mit lauter Stimme: „Kameraden, es lebe Deutschland!“

Es waren Menschen, die sich schlimmster Verbrechen schuldig gemacht hatten. Dass sechs Jahre nach Kriegsende Hinrichtungen stattfanden, war dennoch hoch umstritten. „Die Stimme des Herzens“ müsse jetzt sprechen, forderte der CSU-Bundestagsabgeordnete Richard Jäger noch am Hinrichtungstag bei einer Kundgebung vor 4.000 Landsbergern und verlangte die Begnadigung. Und Oberbürgermeister Ludwig Thoma bat „um menschliche Gerechtigkeit für die Insassen des Kriegsverbrechergefängnisses“.

Stets stand dabei auch der Vorwurf „Siegerjustiz“ im Raum. Von hier war es dann nicht mehr weit zur Umdeutung der Geschichte, in der nicht nur die Kriegsverbrecher als Opfer gesehen wurden, sondern gleich ganz Deutschland, „gegängelt“ von „alliierter Besatzungswillkür.“

Der emeritierte Freiburger Historiker Ulrich Herbert beschreibt eine „Atmosphäre aus Auftrumpfen, Rechtfertigungen, schlechtem Gewissen und Kaltem Krieg“. Gemeint ist der spürbare Drang nach Souveränität der noch jungen Bundesrepublik, die als Juniorpartner im aufziehenden Kalten Krieg vor der Wiederbewaffnung steht.

Schon lange hatte sich Politprominenz bei den Besatzungsmächten für die Begnadigung der Verurteilten eingesetzt, darunter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU). Der deutsche Beitrag zur westlichen Allianz sei nicht umsonst zu haben, sondern um den Preis der Rehabilitation der deutschen Soldaten, lautete Adenauers Kalkül. „Eine Partei, die damals sich klar abgesetzt hätte von den Landsbergern, hätte einpacken können“, erklärte der Jurist Ingo Müller.

„Die gesamte Bonner Politik, nachdrücklich unterstützt, wenn nicht getrieben von der Publizistik und den alten militärischen, wirtschaftlichen und bürokratischen Eliten, die Angehörige unter den Betroffenen hatten, drängte auf eine 'Lösung des Kriegsverbrecherproblems'“, schreibt der Autor Jens Westemeier: „Der fundamentale Unrechtscharakter des NS-Regimes und seiner Angriffskriege wurde ausgeblendet.“

Zu denen, die zugunsten der zum Tode Verurteilten bei den Besatzern intervenierten, gehörten auch hochrangige Kirchenvertreter wie die evangelischen Bischöfe Hans Meiser und Theophil Wurm. Bereits im Dezember 1949 habe sich der Hohe Kommissar der US-Besatzungsmacht, John Jay McCloy, beim Außenministerium beklagt, er bekomme in der Kriegsverbrecherfrage mehr und mehr Beschwerden von Kirchenleuten, schreibt US-Historiker Thomas Alan Schwartz. Der katholische Kardinal Josef Frings habe sich vehement für eine Umwandlung der Todesurteile in Haftstrafen eingesetzt, weil viele Taten der Angeklagten „nicht aus einer kriminellen Disposition heraus“ geschehen seien.

Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche von Deutschland (EKD) aus dem Jahr 1949 erbat die Nachprüfung der Urteile durch eine Berufungsinstanz. Sie schloss mit der Bemerkung, „dass höchster Ausdruck der Gerechtigkeit nicht Urteil und Vollstreckung der Strafe sein muss. Als Diener Christi bitten wir darum, in geeigneten Fällen Gnade walten zu lassen.“

Im Januar 1951 wird eine Abordnung des Bundestages bei McCloy vorstellig und wirbt eindringlich für eine Amnestie der verurteilten NS-Täter. Der Hohe Kommissar begnadigt Dutzende von Kriegsverbrechern aus Landsberg, darunter Wehrmachtsgeneräle, SS-Einsatzgruppenführer, Mediziner und Bankiers. Zwar bestätigt McCloy fünf Todesstrafen, zehn wandelt er jedoch in Haftstrafen um. 20 Zeitstrafen werden reduziert und 32 Häftlinge kommen frei.

In den folgenden Jahren lassen die Amerikaner die verbliebenen rund 500 Landsberger Gefangenen nach und nach frei. Mit der vorzeitigen Entlassung der vier letzten Häftlinge am 9. Mai 1958 ist das „Kriegsverbrechergefängnis Nummer 1“ Geschichte.