Friedensforscher: Teilmobilisierung Russlands ändert nichts für Ukraine

Frankfurt a.M. (epd). Die von Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch ausgerufene „Teilmobilisierung“ der Streitkräfte ändert nach den Worten des Friedensforschers Matthias Dembinski für die angegriffene Ukraine zunächst nichts. Zwar bedeuteten die von Verteidigungsminister Sergej Schoigu genannten 300.000 Reservisten die doppelte Menge der anfangs rund 150.000 in den Angriff geschickten Soldaten, sagte der Projektleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst. Aber die Frage sei, wie und in welchem Zeitraum diese Reservisten kriegsfähig seien.

Die russische Armee habe seit Februar im Krieg viel modernes Material und Offiziere verloren, erläuterte Dembinski. Es sei zweifelhaft, ob die Armee viele Reservisten rasch ausbilden und mit ausreichend Material ausstatten könne. Die russische Industrie könne aufgrund des westlichen Boykotts, etwa von Computerchips, die Ausrüstung nicht rasch nachproduzieren. Die Soldaten hätten nicht einmal ausreichend Schutzwesten. Die Panzer in den Depots seien vor allem ältere Modelle.

Die russische Regierung habe im Verlauf des Krieges die Begründung ihres Angriffs und ihre Kriegsziele geändert, erklärte der Friedensforscher. Hieß es anfangs, die Truppen sollten die Ukraine „entnazifizieren“, die russischsprachige Bevölkerung befreien und historisch zu Russland gehörendes Land zurückholen, so sei nach der Gegenoffensive der Ukraine nur noch die Rede davon, das Gebiet Donbass zu befreien. Von dem Teilgebiet Oblast Donezk habe Russland derzeit ungefähr die Hälfte besetzt. Die russischen Truppen führten dort weiterhin kleine Offensiven, obwohl nördlich und südlich davon die Front durch ukrainische Gegenangriffe einbreche.

Zur Begründung der Eskalation des Kriegseinsatzes spreche Putin nun davon, dass Russland sich gegen einen vom Westen aufgezwungenen Überlebenskampf zur Wehr setzen müsse. Der Westen wolle Russland zerstören, behaupte der russische Präsident. Entscheidend sei die Frage, ob Putins Drohung mit dem Einsatz atomarer Waffen eine Wirkung habe, sagte Dembinski.

Die Verbündeten der Ukraine könnten mit deren Regierung über Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten zur Beendigung des Krieges nachdenken, regte der Forscher an. Anrufe bei Putin wie jüngst durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) könnten Möglichkeiten dafür ausloten. Es sei empfehlenswert, Putin nicht in die Enge treiben zu wollen, sondern ihm deutlich zu machen, dass der Westen Russland nicht zerstören wolle. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe kürzlich für eine politische Beendigung des Krieges plädiert und als Bedingung dafür genannt, dass Russland das seit 24. Februar besetzte ukrainische Gebiet aufgeben müsse.