Friedensforscher: Der Westen hat Afghanistan nie verstanden

Frankfurt a.M. (epd). Die westlichen Regierungen haben nach Einschätzung des Friedensforschers Conrad Schetter nie ernsthaft versucht, Afghanistan zu verstehen. „Der grundlegende Fehler war, dass sich der Westen um seine eigenen Interessen gedreht hat“, sagte der Forschungsdirektor des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC) dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es sei nicht wirklich darum gegangen, dem Land auf die Füße zu helfen.

Auch jetzt nach dem Debakel des schnellen Abzugs der internationalen Truppen und seinen Folgen werde sich kaum etwas ändern, vermutet Schetter. „Die westlichen Regierungen setzen mal wieder auf das Kurzzeitgedächtnis der Bevölkerung oder der Wähler.“ Der gleiche Fehler wie in Afghanistan „unterläuft uns gerade in Mali und wird uns noch weiter unterlaufen“. Das liege in der Art und der Logik der Interventionspolitik.

Die reichen Länder müssten in ihrer Entwicklungspolitik weitaus stärker von der Perspektive der Betroffenen ausgehen. Das sei nicht nur in Deutschland so, sondern weltweit. „Man hat in den letzten Jahren Fortschritte erzielt, aber es wird nicht Politik aus den Bedarfen und Vorstellungen der Bevölkerung abgeleitet, sondern es werden politische Vorgaben gemacht und nach unten weitergegeben.“

Ein gutes Beispiel dafür sei das „National Solidarity Program“ (NSP). Es sei das mit mehreren Milliarden Dollar von verschiedenen Gebern größte Programm, das es in Afghanistan gab. „Es soll dazu dienen, die lokale Gesellschaft in Afghanistan aufzubauen“, erläuterte Schetter. „Der Gedanke war, dass lokale Gemeinden Gelder bekommen sollten, um damit eigene Projekte umzusetzen.“ Das Programm sei aber von vornherein so gestaltet gewesen, dass gewisse Dinge gar nicht möglich waren.

So hätten die Gemeinden keine Moscheen oder Religionsräume bauen dürfen. „Was natürlich in einer Gesellschaft wie der afghanischen, die tiefreligiös ist, absurd ist.“ Gleichzeitig sei vorgegeben, dass in einer Gemeinde nur eine bestimmte Zahl an Menschen leben darf. „Es wurde also ein Gemeindebegriff entwickelt, den es in Afghanistan gar nicht gab.“ Das sei ein wunderbares Beispiel, wie man Milliarden ausgeben kann, ohne die lokalen Perspektiven aufzugreifen.

Die Taliban wollten nach ihrer Machtübernahme eine Anerkennung des Westens und auch, dass die humanitäre Hilfe weiterlaufe. Zumal mit den Entwicklungsprojekten auch viele Strukturen aufgebaut worden seien. Aber neben einer Kooperation mit Europa und den USA gebe es für die Taliban auch eine Alternative, und die heiße China. Die Taliban seien nicht unbedingt auf Geld aus dem Westen angewiesen.

Das Gespräch im Wortlaut:

epd: Herr Schetter, die Taliban kontrollieren nun einen Großteil Afghanistans und verhandeln derzeit über die Bildung einer Regierung. Wie wichtig ist ihnen dabei die internationale Anerkennung?

Schetter: Die internationale Ebene spielt eine sehr große Rolle. Die Taliban haben in einigen Bereichen aus den Fehlern der 90er Jahre gelernt. Das hat auch mit den pakistanischen Interessen zu tun. Pakistan war an den jüngsten Erfolgen der Taliban beteiligt und will in Afghanistan endlich Ruhe haben. Die Pakistanis haben ein starkes Interesse an einem international anerkannten Staat und einer international anerkannten Regierung, und den Taliban geht es ähnlich. China und Russland haben sich schon dialogfähig erklärt, ähnlich sieht es bei Pakistan und den Golfstaaten aus. Und es wird ein allmählicher Prozess werden, in dem die westliche Staatengemeinschaft entscheiden muss, ab welchem Punkt man die Taliban anerkennen kann oder wirklich eine klare Grenze dagegen zieht.

epd: Welche Tendenz sehen Sie?

Schetter: Die westliche Staatengemeinschaft war zuerst völlig geschockt und wollte gar nicht mit den Taliban reden und jetzt nimmt man Gespräche auf. Das wurde ja schon klar, als der Sondergesandte Markus Potzel nach Doha geschickt wurde. Deutschland unterhält schon seit einigen Jahren sehr hinter verschlossenen Türen Kommunikationsbeziehungen mit den Taliban. Man spricht mit ihnen, und auch die Amerikaner folgen diesem Trend. Man versucht die Kommunikationswege offen zu halten.

epd: Sind die Taliban auf das Geld aus dem Westen angewiesen?

Schetter: Nicht unbedingt. Was eine Rolle spielt, ist die humanitäre Hilfe. Hier wird angedeutet, dass sie weiterlaufen wird. Andererseits stellt Afghanistan das fehlende Puzzlestück für die chinesischen Seidenstraße dar. China investiert Milliarden in diese Initiative und braucht Afghanistan dafür. Neben den westlichen Hilfsgeldern gibt es ein chinesisches Modell, auf das Afghanistan schielt. Das erleben wir in der gesamten Region, auch Pakistan hat sich von der westlichen Entwicklungszusammenarbeit emanzipiert und setzt stärker auf China.

epd: Das heißt, der Westen soll helfen und China investieren?

Schetter: Es geht in die Richtung. Investitionen aus Europa haben in den letzten 20 Jahren nicht funktioniert. Die Frage ist, ob Europa und die USA ihre Rolle überschätzen oder ob die Taliban doch auf die westliche Entwicklungszusammenarbeit angewiesen ist. Denn die hat doch sehr viel Strukturen in Afghanistan aufgebaut. Und diese Projekte fortzuführen mit europäischer oder US-Kooperation geht weitaus einfacher, als wenn China die Dinge ganz anders macht. Wichtig ist, es gibt zur Kooperation mit Europa und den USA es eine Alternative und die heißt China.

epd: Wie lange wird das schlechte Gewissen der Europäer und der USA wegen des Debakels der vergangenen Wochen durch den überstürzten Abzug der Truppen anhalten?

Schetter: Ich glaube, eher kurz. Die westlichen Regierungen setzen mal wieder auf das Kurzzeitgedächtnis der Bevölkerung oder der Wähler. Ich glaube nicht mehr daran, dass sich bei dem Thema grundsätzlich etwas ändert. Der grundlegende Fehler an Afghanistan war, dass sich der Westen um seine eigenen Interessen gedreht hat, und niemals wirklich versucht hat, Afghanistan zu verstehen und auf die Füße zu bringen. Und der Fehler unterläuft uns gerade in Mali und wird uns noch weiter unterlaufen. Das ist meines Erachtens eine inhärente Problematik in der Logik, wie solche Interventionspolitiken laufen.

epd: Was müsste man anders machen?

Schetter: Man müsste in der Entwicklungspolitik weitaus stärker von den Betroffenen ausgehen, und die großen Programme und Projekte aus der Perspektive der Betroffenen angehen. Das ist nicht nur in Deutschland so, das ist weltweit so. Man hat in den letzten Jahren Fortschritte erzielt, aber es wird nicht Politik aus den Bedarfen und Vorstellungen der Bevölkerung abgeleitet, sondern es werden politische Vorgaben gemacht und nach unten weitergegeben.

epd: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Schetter: Ein gutes Beispiel ist das „National Solidarity Program“ (NSP), das mit mehreren Milliarden größte Programm, das es in Afghanistan gab. Es soll dazu dienen, die lokale Gesellschaft in Afghanistan aufzubauen. Der Gedanke war, dass lokale Gemeinden Gelder bekommen sollten, um damit eigene Projekte umzusetzen. Das Programm war aber von vornherein so gestaltet, dass gewisse Dinge gar nicht möglich waren. Die Gemeinden durften zum Beispiel keine Moscheen oder Religionsräume bauen. Was natürlich in einer Gesellschaft wie der afghanischen, die tiefreligiös ist, absurd ist. Gleichzeitig wurde vorgegeben, dass in einer Gemeinde nur so und so viele Leute leben dürfen, es wurde also ein Gemeindebegriff entwickelt, den es in Afghanistan gar nicht gab. Das ist ein wunderbares Beispiel, wie man Milliarden ausgeben kann, ohne die lokalen Perspektiven aufzugreifen.

epd: Wir sprechen von den Taliban, aber sind sie nicht ein Zusammenschluss von verschiedenen Gruppen?

Schetter: Ja und nein. Die Taliban haben es fast 30 Jahre durchgehalten, nach außen eine starke Einheit darzustellen. Das unterscheidet sie auch von allen anderen Gruppierungen in Afghanistan, die sich immer wieder gestritten und aufgesplittert haben. Zugleich geht der Begriff Taliban inzwischen weit über die militärische Bewegung hinaus. Menschen nennen sich Taliban mehr oder weniger als Gegenbegriff zu allem, was mit der westlichen Intervention zusammenhängt. Es ist gewissermaßen ein Sammelbegriff. Man kann davon ausgehen, dass deshalb in den nächsten Monaten Risse innerhalb der Bewegung auftreten werden.

epd: Wenn also der gemeinsame Feind wegfällt, könnte die Einheit bröckeln?

Schetter: Ja, das droht den Taliban. Was sie aber bisher ausgezeichnet hat, ist, dass die Spitze sehr starken Einfluss auf die lokale Ebene hat. Es gab in den vergangenen Wochen, auch als die Taliban vorrückten, einige Gewaltexzesse, aber meistens vermochten sie vergleichsweise gut, ihre lokalen Kommandeure unter Kontrolle zu halten. Aber auch hier habe ich sehr große Zweifel, dass das längerfristig anhält.

epd: Und wie ist es mit dem Widerstand?

Schetter: Es gibt zwei Ebenen von Widerstand. Einerseits in der urbanen, aufgeschlossenen Bevölkerung gibt es Afghanen, die auf Straßen gegangen sind. Die Proteste wurden gleich unterbunden, sie können nichts gegen die Taliban ausrichten. Andererseits sehen wir einen ersten Widerstand im Pandschir-Tal, nördlich von Kabul, von wo immer schon Widerstand gegen die Taliban geführt wurde. Ob das anhält, hängt sehr stark davon ab, ob der Westen sich dazu hinreißen kann, diese Gruppe zu unterstützen.