Friedensethiker sieht gute Chancen für rein zivile Sicherheitspolitik

Osnabrück, Karlsruhe (epd). Der Friedensethiker und Ökonom Ralf Becker plädiert für den Wandel von einer militärischen zu einer zivilen Sicherheitspolitik. Gerade vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ukraine-Konflikts und der drohenden Klimakatastrophe halte er es für notwendig und auch realistisch, zu Friedensverhandlungen zu kommen, sagte der Koordinator der Initiative „Sicherheit neu denken“ in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Wir wissen, dass wir uns mittelfristig mit unserem Nachbarn Russland wieder ins Benehmen setzen müssen. Es wird also mit zunehmender Zeit immer dringlicher, auch über diesen Krieg hinauszuschauen.“

Becker hat gemeinsam mit Experten im Auftrag der evangelischen Landeskirche in Baden ein Szenario entwickelt, nach dem unter anderem die Bundeswehr bis 2040 in eine internationale Polizei und ein internationales Technisches Hilfswerk umgewandelt werden soll. Deutschland würde den Plänen zufolge jährlich 70 Milliarden Euro in die zivile Friedenssicherung investieren und Europa eine Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft mit Russland und asiatischen Staaten betreiben.

Aus seiner Sicht gebe es dazu keine Alternative, betonte der Katholik: „Wenn wir noch jahrelang in dieser militärischen Kriegslogik bleiben, dann erreichen wir weder die Klimaziele noch irgendeine Pandemiebekämpfung.“ Becker spricht am 4. November auf Einladung des evangelisch-lutherischen Sprengels in Osnabrück.

Für echte Friedensverhandlungen im Ukraine-Konflikt müssten die langfristigen Interessen aller Konfliktparteien, also auch Russlands und Chinas, berücksichtigt werden, betonte Becker. Autokraten wie Putin „sind nicht durchgeknallt, sondern kühl berechnend“. Sie wollten einen Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen. „Wir sind fest davon überzeugt, dass auch mit Präsident Putin zu reden ist, wenn wir die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zum Verhandlungsthema machen.“

Die Initiative „Sicherheit neu Denken“, die von mehr als 150 Organisationen getragen wird, setzt Becker zufolge große Hoffnungen auf die Afrikanische Union. Diese lehne es ab, sich einseitig zu positionieren und setze sich stattdessen für Friedensverhandlungen ein. Auch mit verantwortlichen Verteidigungs- und Außenpolitikern in westlichen Staaten sei die Initiative im steten Austausch. „Wir müssen raus aus der aktuellen Eskalationsdynamik“, betonte Becker.

Eine Lösungsmöglichkeit wäre etwa, dass die Ostukraine und die Krim völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine gehörten, aber einen weitgehenden Autonomiestatus bekommen würden, betonte der Friedensethiker. Dieser würde auch Russisch als Amtssprache und weitere „Eigenständigkeits-Symbole“ umfassen. „Dann könnten sich beide Seiten als Gewinner dieses Krieges darstellen.“

Das Interview im Wortlaut:

epd: Herr Becker, ist Ihre Vision angesichts des Krieges in der Ukraine und der Waffenlieferungen, die sogar von einstigen Friedensaktivisten befürwortet werden, nicht utopisch?

Ralf Becker: Es ist in der Tat herausfordernd, unsere Vorstellungen in die Debatte einzubringen. Aber mittlerweile wird unsere Initiative von mehr als 150 Organisationen getragen. Wir haben Kontakte in die Parteien und zu zahlreichen führenden Verteidigungs- und Außenpolitikerinnen auch des neuen Bundestags. Wir glauben, dass aufgrund der weltpolitischen Lage der Druck automatisch zunehmen wird. Wenn wir uns die sich verselbstständigende Klimakatastrophe ansehen, wissen wir, dass wir uns mittelfristig mit unserem Nachbarn Russland wieder ins Benehmen setzen müssen. Es wird also mit zunehmender Zeit immer dringlicher, auch über diesen Krieg hinauszuschauen.

epd: Können Sie Beispiele für Ideen nennen, die Sie in die Debatte einbringen?

Becker: Man könnte den Krieg beenden, wenn man differenzierte Lösungsmöglichkeiten ins Auge fassen würde. Die Ostukraine und die Krim könnten zum Beispiel völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine gehören, aber einen weitgehenden Autonomiestatus bekommen. Der würde auch russisch als Amtssprache umfassen und weitere Eigenständigkeits-Symbole. Dann könnten sich beide Seiten als Gewinner dieses Krieges darstellen.

epd: Sind Sie auch international mit Politikern über solche Lösungsmöglichkeiten im Gespräch?

Becker: Wir sind sehr viel im Gespräch mit afrikanischen Politikerinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Die haben einen ganz anderen Blick auf den Ukraine-Konflikt. Sie sehen ihn als Teil einer Großmachtkonkurrenz zwischen den USA, Russland und China. Sie wollen sich nicht einseitig positionieren, sondern dringen auf Friedensverhandlungen. Wir als Initiative bauen gerade in Afrika ein größeres Netzwerk auf, unter anderem mit Vertreterinnen von Unterorganisationen der Afrikanischen Union, aber auch von Polizei, Kirche und Zivilgesellschaft. Wir arbeiten mit Schwesterorganisationen in Großbritannien, in den Niederlanden, Italien, der Schweiz und in Österreich zusammen.

epd: Sie sehen also durch die derzeit eskalierende Situation weltweit sogar noch größere Chancen, Ihre Visionen durchzusetzen?

Becker: Auf jeden Fall. Wir sehen bei jedem Vortrag, dass wir in diesen dunklen Zeiten hoffnungsvolle Wege aufzeigen. Die sind vielleicht kurzfristig schwer vermittelbar. Aber wir sind fest davon überzeugt, dass wir mit der Zeit immer mehr Gehör finden werden. Denn es gibt schlicht und ergreifend keine Alternative. Wenn wir noch jahrelang in dieser militärischen Kriegslogik bleiben, dann erreichen wir weder die Klimaziele noch irgendeine Pandemiebekämpfung.

epd: Wie passen in Ihre Visionen autokratische Herrscher wie in Russland, Nordkorea oder China?

Becker: Wir vermeiden das Zeichnen eines Schwarz-Weiß-Bildes. Autokraten sind nicht durchgeknallt, sondern kühl berechnend. Kim Jong-un in Nordkorea oder auch Wladimir Putin wollen einen Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen. Der wird ihnen bislang aber verwehrt. Wir sind fest davon überzeugt, dass auch mit Präsident Putin zu reden ist, wenn wir die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zum Verhandlungsthema machen.

epd: Wie sehen Sie denn die akute Lage in der Ukraine. Ist es sinnvoll, weiter Waffen zu liefern?

Becker: In unserer Initiative gibt es dazu sehr unterschiedliche Stimmen, genauso wie in der Politik und in der Bevölkerung. Ich persönlich bin für diese Waffenlieferungen. Ich glaube, dass es jetzt, wo der Krieg begonnen hat - was man hätte verhindern können - tatsächlich sinnvoll ist, Präsident Putin dieses Zeichen der Stärke entgegenzusetzen. Allerdings ist es unsere Aufgabe als Kirche und als Initiative „Sicherheit neu denken“, auf die Risiken aufmerksam zu machen. Sehr schnell könnte eine Schwelle überschritten werden. Dann werden wir zur aktiven Kriegspartei oder der Krieg weitet sich zu einem Atomkrieg aus. Deshalb führen wir weniger die Diskussion um Waffenlieferungen, sondern dringen darauf, dass die langfristigen Interessen aller Konfliktparteien in Verhandlungen eingebracht werden.

epd: Wie kann das gehen?

Becker: Wir sehen, dass laufend Verhandlungen gelingen, zur Lieferung von Getreide und zum Austausch von Gefangenen. Darauf gilt es aufzubauen. Zentral ist, dass wir Präsident Putin Verhandlungen über den zukünftigen militärischen Bündnisstatus der Ukraine zugestehen. Es gibt bereits Verhandlungsinitiativen, zum Beispiel von der Afrikanischen Union, die sich auch als Mediatorin angeboten hat. Wir wissen auch aus den deutschen Regierungsparteien, dass nicht öffentlich weiter Verhandlungsbemühungen laufen. Wir müssen raus aus der aktuellen Eskalationsdynamik - dafür versuchen wir in wöchentlichen Gesprächen mit Spitzenpolitikerinnen zu sensibilisieren. Wir haben nie eine Garantie, dass das funktioniert. Die hat aber die militärische Konfliktbearbeitung auch nicht.

Zur Person: Ralf Becker

Ralf Becker (56) ist seit 2019 Projektkoordinator der Initiative „Sicherheit neue denken“ der Evangelischen Landeskirche in Baden, die sich für den Wandel der militärischen zu einer zivilen Sicherheitspolitik einsetzt. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler hat ab 2015 bereits maßgeblich an der Entwicklung des Szenarios einer zivilen Sicherheitspolitik mitgearbeitet. Bis 2019 war er zehn Jahre lang Koordinator des Vereins „gewaltfrei handeln“.

Der Katholik Becker war früher unter anderem beim Kolping-Bildungswerk und dem Bischöflichen Hilfswerk Misereor tätig. Er hat bei der Erlassjahr-Kampagne für die Entschuldung von Entwicklungsländern und am Club-of-Rome-Bericht „Money and Sustainability“ (Geld und Nachhaltigkeit) mitgewirkt. Sein Engagement galt schon früh der Sozial- und Entwicklungspolitk wie auch der Friedensbewegung. Im Jahr 2000 trat das einstige CDU-Mitglied aus der Partei aus.