Forscher Zick: "Zauberformel Zusammenhalt" hilft nicht mehr

Bielefeld (epd). Die Corona-Pandemie hat nach Worten des Konfliktforschers Andreas Zick zu neuen Spaltungen in der deutschen Gesellschaft geführt. Insgesamt seien Konflikte und Gewalt in der Gesellschaft sichtbarer und globaler geworden, sagte Zick dem Evangelischen Pressedienst (epd). Umso wichtiger seien Strategien für eine friedlichere, zivilere Gesellschaft, mahnte der Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung, das vor 25 Jahren - am 18. Dezember 1996 - gegründet wurde.

epd: Welche Folgen hat die Corona-Pandemie auf Demokratie und Gesellschaft in Deutschland?

Zick: Mit der Pandemie ist Deutschland ebenso wie andere Länder in neue Polarisierungen geraten, die mit Spaltungen einhergehen. Diese resultieren wiederum aus Abspaltungen von Gruppen. Das Land ist damit konfrontiert, dass sich über den Widerstand gegen die Corona-Regeln und die Distanz zu politischer Steuerung neue extremistische Gruppen gebildet und in Distanz zur Demokratie bewegt haben. Zudem ist das Land mit einer Welle von Gewalt konfrontiert. Die Zahl der vorurteilsbasierten Hasstaten, der Angriffe auf Amts- und Würdenträger, Politiker, Medienschaffende, Forschende hat zu- und nicht abgenommen.

epd: Woher kommt das?

Zick: Schon in unseren empirischen Studien haben wir Ende der 2010er Jahre eine höhere Gewaltbilligung und -bereitschaft unter rechtspopulistisch orientierten Menschen festgestellt. Nun haben sich zehn Jahre später demokratieferne und -gefährdende Milieus um ein Vielfaches digital verbunden, haben neue Widerstandsideen entwickelt und sind schneller fähig, Menschen abzuholen, die sich ohnmächtig fühlen. Das wirkt sich auf die Gesellschaft und ihre Kultur aus. Die Schwierigkeit Deutschlands, die Pandemieprävention hinzubekommen, ist ein Ausdruck der konflikthaften Lage.

epd: Wie kann da Zusammenhalt erreicht werden?

Zick: Zumindest nicht durch Appelle an Solidarität und Zusammenhalt. In unseren Studien zeigen wir, dass derzeit ein neuer Populismus, der politische Maßnahmen nach einfachen Schemata wie zum Beispiel „die da oben, wir hier unten“ oder „gut und sicher gegen schlecht und schlimm“ in die Mitte drängt. Zugleich erzeugt die Umstellung der Gesellschaft in vielen Bereichen auf Wettbewerb, Leistung und die Zuschreibung von gesellschaftlichen Problemen an Einzelne neue Gruppen, die sich von gesellschaftlichen Grundnormen oder Appelle an Ziviltugenden nicht mehr binden lassen. Da hilft auch die Zauberformel Zusammenhalt nicht.

epd: Was bedeutet das konkret?

Zick: Wir haben gerade in der letzten Mitte-Studie, die im zweiten Lockdown Anfang 2021 durchgeführt wurde, gezeigt, dass in Deutschland der Zusammenhalt immer dann, wenn er als gefährdet betrachtet wird, mit der Abwertung von Gruppen einhergeht. Das alles wirkt sich auch auf neue Gewaltrisiken für gesellschaftliche Minderheiten aus. Wir erleben eine Rassismus-Diskussion, weil sich das Ausmaß an alltäglichen Herabwürdigungen bei allen Erfolgen der Demokratieentwicklung, nicht vermindert.

epd: Wie haben sich die Konflikte verändert?

Zick: Wir erleben, dass Phänomene von Konflikt und Gewalt nicht nur sichtbarer sind, sondern globaler geworden sind. Gesellschaften wie die deutsche Gesellschaft kann nicht einfach drauf vertrauen, das sich internationale Konflikte und auch Radikalisierungsphänoneme, die hier aufschlagen, solidarisch mit anderen lösen lassen.

epd: Welche Folgen hat das?

Zick: Europa fehlt der Zusammenhalt auch und gerade in den zentralen Fragen der konstruktiven Konfliktlösung. Das Desaster um die Frage der Migrationspolitik macht das deutlich. Migration ist auch in einer modernen, offenen und diversen Gesellschaft nach unseren Studien immer noch ein Thema, das zu sehr von Bedrohungswahrnehmungen und entwürdigenden Stereotypen über Gruppen geprägt ist. Demokratien sind Konfliktgebäude, aber sie werden schwach, wenn Konflikte destruktiv, nur auf Kosten von Gruppen und über nationale Eigeninteressen gelöst werden. Menschenfeindliche Vorurteile wie Gewalt gegen schwächere Gruppen, zu denen viele gehören, weisen also auf Schwächen hin.

epd: Welche Bedeutung hat dabei die Forschung?

Zick: Wir versuchen mit Grundlagenforschung zu verstehen, wie sich Gesellschaften und ihre Mitglieder verändern angesichts ihrer Konflikte und deren Folgen für Gruppen sowie die Ursachen und Folgen der Gewalt. Um das zu verstehen, brauchen wir viele Forschungszugänge. Mit Blick auf die Pandemie wissen wir, dass wir die Zukunft besser für die Gesundheit aufstellen. Wir wissen aus der Forschung, dass eine Pandemie massive gesellschaftliche Folgen hat und Konflikte zunehmen, wie auch vorurteilsbasierte Gewalt. Wir wissen, dass im Auslauf von Krisen weiter Konflikte aufbrechen, weil dann neue Wettbewerbe einsetzen. Wir wissen aus der Forschung, dass Pandemieprävention nicht nur ein medizinisches und gesundheitspolitisches Projekt ist, sondern angemessene Wege der Vermittlung und der Konfliktbearbeitung braucht.

epd: An was denken Sie dabei konkret?

Zick: Nach vielen Krisenerscheinungen in der Pandemie, der Beobachtung von fatalen Entwicklungen in fast allen Lebensbereichen - denken wir an Schulen, die psychischen Folgen, die Krisen der politischen Kommunikation und vieles mehr - müssten jetzt zentrale Fragen für die Zukunft einer demokratischen und zusammenhaltenden Gesellschaft gestellt werden. Wir könnten uns heute die Frage stellen, wie eine friedlichere, eben zivilere Gesellschaft entwickelt werden kann, die nicht ständig je nach gesellschaftlicher Herausforderung die Würde von Menschen und Gruppen infragestellt.

epd: Ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft eine Gefahr für die Demokratie?

Zick: Wir haben in den letzten Jahren zwei Bewegungen in unserer Gesellschaft erlebt, wenn es um Konflikte und Gewalt geht: Auf der einen Seite steigt die demokratische Orientierung und die Hoffnung, dass Demokratie den gesellschaftlichen Frieden Zusammenhalt garantiert. In unserer letzten repräsentativen Mitte-Studie sagen 73 Prozent der Befragten von sich, dass sie überzeugte Demokraten sind. Auf der anderen Seite aber haben sich einerseits extremistische und rechtspopulistische Milieus gebildet, die in der Pandemie über Verschwörungsideologien und neue Ideologien des Widerstandes „gegen das System“ auch andere Gruppen polarisiert haben. In derselben Studie meinen 23 Prozent ebenso, es sei mehr Zeit Widerstand gegen die aktuelle Politik zu zeigen.

epd: Was motiviert diese Menschen?

Zick: Ein Indikator für die Spaltung ist die soziale und ökonomische Ungleichheit. Auch sie ist gestiegen. Wissen wir, welche Konflikte Menschen erleben, die in prekären Verhältnissen leben? In der letzten Mitte-Studie zeigt sich, dass Menschen aus schwierigen ökonomischen Verhältnissen den von höhere Schichten gepredigten Konkurrenz und Wettbewerb, als stärkere Bedrohung für das Land wahrnehmen als die anderen. Solche Stimmungen zieht den Populismus an.

epd: Wie fällt Ihre Bilanz nach 25 Jahren des Instituts aus?

Zick: Zunächst ist meine Bilanz: die Analyse von Konflikt und Gewalt in der Gesellschaft ist so dringend ist wie bei Gründung des Instituts. Bisweilen bin ich angesichts der gesellschaftlichen Dimension von destruktiven Konflikten und Gewalt, die wir alltäglich beobachten, und zugleich der Schwierigkeiten, die wir in der Friedens- und Konfliktforschung haben, um Unterstützung zu bekommen, eher nüchtern. Da frage ich mich selbst, warum wir zu wenig bewirken. Aber es steht glaube ich außer Frage, dass wir Wirkungen erzeugt haben.

epd: Was hat das Institut mit seinen Forschungen bewirkt?

Zick: Wir haben im Bereich der Rechtsextremismus- und der modernen Radikalisierungsforschung Impulse setzen können. Ich denke aber auch, wir erzeugen Wirkungen, weil wir als eine institutionelle Forschungsgemeinschaft auf Themen aufmerksam machen, die oft als Randphänomene oder als Abweichungen etikettiert werden. Wir sind jetzt ein Teilinstitut im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, welches an elf Standorten vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird. Wir haben vor Jahren mit an der Gründung des Deutschen Institut für Integrations- und Migrationsforschung gearbeitet. Wir sind Partner eines Wissenschaftscampus zu regionalen Polarisierungen, den wir in Bielefeld mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung entwickeln.