Experte der Friedensbewegung: Pazifismus ist nicht naiv

Bonn (epd). In der Debatte über Friedensethik angesichts des Ukraine-Krieges hat ein Sprecher der Friedensbewegung den Ansatz gewaltfreier Verteidigung auch in Kriegszeiten verteidigt. „Ihr Potenzial ist noch bei weitem nicht ausgeschöpft“, sagte Björn Kunter, Osteuropa-Experte und Sprecher der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung des Netzwerks Friedenskooperative, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Pazifismus ist nicht naiv.“ In der Ukraine seien „in den letzten Jahren Strukturen entstanden, die jetzt den Widerstand in den neu besetzten Gebieten tragen und trotz großem Verfolgungsdruck am Leben halten“. Russland habe „auch in den besetzten Gebieten noch lange nicht gewonnen“.

„Ich glaube nicht, dass es naiv war oder ist, Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland gestalten zu wollen“, sagte Kunter. „Naives Wunschdenken wäre es zu glauben, dass wir mit Sanktionen, Isolation und Wettrüsten nun Putin bezwingen könnten.“ Mit Blick auf Waffenlieferungen erklärte der Experte für zivile Konfliktlösungen, dass Solidarität ein hoher Wert und Wegschauen keine Option sei. Die Ukraine verteidige sich, so gut sie es könne, mit militärischen Mitteln.

Es sei dennoch peinlich, dass der Bundesregierung und den Nato-Staaten „nichts Besseres“ einfalle, als Waffen zu liefern - fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung der russischen Strategie für hybride Kriegsführung. Eine pazifistische Bundesregierung wäre „besser vorbereitet gewesen und hätte jetzt andere Optionen, mehr Fantasie und Fachkräfte, um die Ukraine gewaltfrei zu unterstützen“.

Trotz des Kriegs in der Ukraine hält Kunter „angesichts der zehnfachen Überlegenheit der Nato gegenüber Russland“ Abrüstung für das Gebot der Stunde: „Jeder Euro, der nicht für Rüstung, sondern für Windkrafträder und Entwicklungsprojekte ausgeben wird, ist eine bessere Investition für unsere Zukunft.“

Kunter räumte ein, dass ein Teil der Friedensbewegung die „Gefahr eines neo-imperialen Krieges“ unterschätzt habe. „Zu große Teile der Friedensbewegung haben kaum Kenntnisse von den Vorgängen in den postsowjetischen Staaten“, sagte er. „Daher gibt es eine große Empathielücke gegenüber der Ukraine.“ Zwar gebe es in der Friedensbewegung auch Menschen, „die das Regime Putin sehr kritisch gesehen und sich solidarisch für die Demokratiebewegungen in Osteuropa eingesetzt haben“, sagte der Experte. „Wir alle haben aber die Irrationalität der Kremlführung unterschätzt, die mit dem Einmarsch in die Ukraine ihren eigenen Untergang eingeleitet hat.“

Das Interview im Wortlaut:

epd: Muss die Friedensbewegung in der aktuellen Situation ihre Grundpositionen neu überdenken - kann das Prinzip „Frieden schaffen ohne Waffen“ noch gelten?

Björn Kunter: Pazifismus ist mehr als „ohne Waffen“. Eine gewaltfreie Verteidigung und Sicherheitspolitik mit dem Anspruch „Frieden schaffen ohne Waffen“ wurde in Deutschland und weltweit noch nie versucht. Die unzähligen Proteste in den besetzten Gebieten der Ukraine, Berichte von Sabotage in Belarus und zunehmende Desertionen, Befehlsverweigerung und Kriegsdienstverweigerung in Russland zeigen, dass die Ansätze gewaltfreier Verteidigung auch in Kriegszeiten funktionieren können. Ihr Potenzial ist noch bei weitem nicht ausgeschöpft.

2014 hat in großen Teilen des Donbas vor allem die zivile Verteidigung versagt, weil lokale Verantwortungsträger übergelaufen sind oder sich nicht oder zu spät gewehrt haben. In den russischsprachigen Städten Odessa und Charkiw gelang es der ukrainischen Zivilgesellschaft dagegen, den Angriff gewaltfrei abzuwehren. Aufbauend auf diesen Erfahrungen sind in den letzten Jahren Strukturen entstanden, die jetzt den Widerstand in den neu besetzten Gebieten tragen und trotz großem Verfolgungsdruck am Leben halten. Russland hat auch in den besetzten Gebieten noch lange nicht gewonnen. Pazifismus ist nicht naiv. Auch gewaltfreie Verteidigung fordert Opfer und kann Niederlagen erleiden - genauso wie die militärische Verteidigung.

epd: Hat die Friedensbewegung die Bedrohung durch einen Aggressor unterschätzt, der sich nicht an das Völkerrecht hält und seine eigenen Zusagen bricht?

Kunter: Die Friedensbewegung wurde in der Zeit der Blockkonfrontation sozialisiert. Zu große Teile der Friedensbewegung haben kaum Kenntnisse von den Vorgängen in den postsowjetischen Staaten. Daher gibt es eine große Empathielücke gegenüber der Ukraine, und die Gefahr eines neo-imperialen Krieges wurde unterschätzt. In der Friedensbewegung gab es aber auch immer Menschen, die das Regime Putin sehr kritisch gesehen und sich solidarisch für die Demokratiebewegungen in Osteuropa eingesetzt haben. Diese Menschen konnte die Aggression und Brutalität Putins nicht überraschen. Wir alle haben aber die Irrationalität der Kremlführung unterschätzt, die mit dem Einmarsch in die Ukraine ihren eigenen Untergang eingeleitet hat. Ich glaube nicht, dass es naiv war oder ist, Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland gestalten zu wollen. Naives Wunschdenken wäre es zu glauben, dass wir mit Sanktionen, Isolation und Wettrüsten nun Putin bezwingen könnten.

epd: Ist es falsch, Waffen an ein angegriffenes Land zu liefern, wenn dieses Land die Welt angesichts grausamer Kriegsverbrechen um Waffen zur Selbstverteidigung bittet?

Kunter: Solidarität ist ein hoher Wert. Wegschauen ist keine Option. Die Ukraine verteidigt sich, so gut sie es kann, mit militärischen Mitteln. Und die Bundesregierung hilft ihr dabei, so gut oder schlecht sie es kann. Hätten wir eine pazifistische Bundesregierung, wäre sie besser vorbereitet gewesen und hätte jetzt andere Optionen, mehr Fantasie und Fachkräfte, um die Ukraine gewaltfrei zu unterstützen. Es ist peinlich, dass der Bundesregierung und den Nato-Staaten nichts Besseres einfällt, als Waffen zu liefern - fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung der russländischen Strategie für hybride Kriegsführung.

epd: Darf Deutschland, darf der Westen einem Volk, das sich in Richtung Demokratie entwickelt hat, die souveräne Entscheidung über seine Bündniszugehörigkeit versagen?

Kunter: Natürlich darf der Westen sagen: Wir nehmen die Ukraine nicht in die Nato auf. Die Nato war auch immer sehr klar, dass sie Russland auch dann nicht aufnehmen würde, wenn es eine Demokratie wäre. Unverantwortlich ist es allerdings, Ländern Hoffnungen auf einen Nato-Beitritt zu machen, ohne sie wirklich schützen zu wollen, wie es 2008 Georgien zum Verhängnis wurde.

epd: Sind militärische Mittel als Ultima Ratio vielleicht doch vertretbar? Wenn ja, muss man dann nicht auch ihre Beschaffung und Bereitstellung befürworten und die Bundeswehr deutlich besser ausstatten?

Kunter: Die hunderttausend Millionen Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr sind kein Beitrag zur Unterstützung der Ukraine, sondern sollen nur dazu dienen, die Abschreckungsfähigkeit der Nato gegenüber Russland zu erhöhen. Doch schon jetzt ist die Nato der russländischen Armee haushoch überlegen. Ein Angriff auf einzelne Nato-Staaten wie das Baltikum mag im Schock des Einmarschs in die Ukraine am 24. Februar noch denkbar gewesen sein, als viele Experten davon ausgingen, die Ukraine könnte in kürzester Zeit überrollt werden. Sechs Wochen später und nach dem russländischen Rückzug aus dem Kiewer Gebiet gibt es keinerlei Grundlage für eine finanzielle Aufstockung der Bundeswehr mehr.

Die Bundeswehr hat sicherlich jede Menge Probleme, aber das ist keine Frage des Geldes, sondern der in den letzten Jahrzehnten erfolgten immer weiteren Ausdehnung ihres Auftrags. Panzer und Hubschrauber in Mali und anderen Auslandseinsätzen richten schon heute Schaden an. Wenn sie der Bundeswehr bei der Landesverteidigung fehlen, sollten wir sie schnellstmöglich zurückholen, statt einfach neues Gerät zu kaufen. Angesichts der zehnfachen Überlegenheit der Nato gegenüber Russland bleibt Abrüstung das Gebot der Stunde. Jeder Euro, der nicht für Rüstung, sondern für Windkrafträder und Entwicklungsprojekte ausgeben wird, ist eine bessere Investition für unsere Zukunft.