Erfurter Theologe sieht in US-Senatswahl Symbol gegen Rassismus

Erfurt (epd). Der Martin-Luther-King-Experte Michael Haspel sieht im Einzug des afroamerikanischen Baptistenpredigers Raphael Warnock in den US-Senat "ein Signal für den ganzen Süden" der Vereinigten Staaten. Seine Wahl könne die Bildung zivilgesellschaftlicher Bündnisse gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit befördern, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. "Vielleicht ist das ein Impuls für Kirchen über die USA hinaus", fügte der Professor für Systematische Theologie am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt hinzu.

Warnock predigte seit 2005 als Hauptpastor an der Ebenezer Baptist Church in Atlanta. Er war damit Nach-Nachfolger von Martin Luther King, Sr., sowie von dessen Sohn, der von 1960 bis zu seiner Ermordung 1968 als "Co-Pastor" in der Kirche wirkte. Bei den Senatsnachwahlen am 5. Januar setzte sich Warnock gegen die bis dahin republikanische Amtsinhaberin und Trump-Unterstützerin Kelly Loeffler mit 50,8 Prozent der Stimmen durch.

Für Haspel ist das "ein historisches Ereignis". Es zeige, dass sich die gesellschaftliche Situation im Süden der USA ändere. Die Wahl des in der engen Tradition der Kings stehenden Warnocks sei "ein großartiges Symbol für den Kampf gegen Rassismus und Weiße Vorherrschaft." Der Vorgang zeige, wie sich progressive afroamerikanische Kirchen und Christen in demokratische und zivilgesellschaftliche Prozesse begeben und vernetzen, um für soziale Gerechtigkeit vor allem für die Benachteiligten einzutreten. "Sie tun dies übrigens nicht nur durch kluge Forderungen, sondern durch konkretes Engagement in den Gemeinden", fügte der Theologe hinzu. 

In der Bürgerrechtsbewegung im Süden seien die Schwarzen Kirchen zunächst das Rückgrat der Bewegung gewesen, sagte Haspel. Heute gehörten sie zu einem Netzwerk. Warnocks Wahl könnte diese Entwicklung noch stärken, sagte Haspel, der sich seit langem mit der Theologie Martin Luther King, Jr. und der Rolle der Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung beschäftigt.

Dass es so lange bis zur Wahl eines Schwarzen und Demokraten aus einem der Südstaaten in den US-Senat gedauert habe, liege daran, dass Rassismus und die Vorstellung einer Vorherrschaft der Weißen zur "politischen DNA der USA" gehörten. Politische und demografische Prozesse wirkten jetzt zusammen. Grundhaltungen wirkten lange fort, sagte der Forscher und verwies ebenso auf Deutschland. "Auch bei uns ist es so, dass an vielen Orten, wo die NSDAP stark war, heute NPD und AfD hohe Stimmanteile haben, rassistische Gewalt erhöht ist." Leider seien das oft historisch protestantische Gegenden.

Das Interview im Wortlaut:

epd: Der Angriff auf das US-Kapitol hat weltweit Schlagzeilen gemacht. Wie schätzen Sie den Sieg von Pastor Raphael Warnock bei den Senatsnachwahlen in Georgia vergangene Woche ein - schließlich ist er nicht nur der erste Afroamerikaner, der für den Südstaat in den Senat einzog, sondern auch als Prediger ein Nachfolger von Vater und Sohn King an der Ebenezer Baptist Church in Atlanta?

Haspel: Warnock ist überhaupt der erste demokratische Afroamerikaner, der für einen der Südstaaten in den Senat einzieht. Das an sich ist ein historisches Ereignis. Es zeigt, dass sich die gesellschaftliche Situation im Süden ändert. Es war der Vater, Martin Luther King, Sr., der 1960 Kennedy und die Demokraten unterstützte, nachdem dieser sich für die Freilassung seines Sohnes Martin Luther King, Jr., aus einer völlig unangemessenen Haftstrafe eingesetzt hatte. Dass nun Raphael Warnock, der Nach-Nachfolger von King, Sr., Senator wird, ist ein großartiges Symbol für den Kampf gegen Rassismus und Weiße Vorherrschaft.

epd: Welche Parallelen sehen sie bei Warnock und King?

Haspel: Warnock hat wie King, Jr. das renommierte afroamerikanische Morehouse College absolviert. Er hat wie King seinen theologischen Doktorgrad an einer liberalen theologischen Fakultät im Norden erworben. Beide verbindet tiefe Friedensethik und Friedenstheologie, die Predigt des Evangeliums der Liebe mit Engagement für gesellschaftliche Gerechtigkeit. Der große Unterschied ist, dass King nie für ein politisches Amt kandidiert hat. Er wurde von manchen als Kandidat für die Wahlen 1968 gehandelt, war aber realistisch genug zu wissen, dass er wegen seines Engagements nicht gewählt werden würde.

epd: Kings Name ist unmittelbar mit dem Kampf für die Menschenrechte vor allem im Süden der USA verbunden. Kann die Wahl Warnocks als eine Art Schlusspunkt für Kings Lebenswerk angesehen werden?

Haspel: Das klingt mir zu abschließend. Ich würde eher sagen, dass Warnock auch ein Symbol dafür ist, wie sich progressive afroamerikanische Kirchen sowie Christinnen und Christen in demokratische und zivilgesellschaftliche Prozesse begeben und vernetzen, um für soziale Gerechtigkeit vor allem für die Benachteiligten einzutreten. Sie tun dies übrigens nicht nur durch kluge Forderungen, sondern durch konkretes Engagement in den Gemeinden. In der Bürgerrechtsbewegung im Süden in den 1950er und 1960er Jahren waren die afroamerikanischen Kirchen das Rückgrat der Bewegung. Heute sind sie Teil eines Netzwerkes. Warnocks Wahl könnte diese Entwicklung noch stärken, so dass sich breite zivilgesellschaftliche Bündnisse gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit bilden. Vielleicht ist das ein Impuls für Kirchen über die USA hinaus.

epd: Wie konnten die Demokraten in Georgia, dem Konföderierten-Staat, der für die Sklaverei kämpfte, gewinnen?

Haspel: Die Demokraten waren historisch die Partei des Südens, die das Ausbeutungssystem der Versklavung und später die Segregation unterstützte. Durch die Bürgerrechtspolitik vor allem Präsident Johnsons sind die konservativen, rassistischen Demokraten des Südens zu den Republikanern gewechselt, die versucht haben, die rassistischen Wähler an sich zu binden. Das ist im Süden, aber auch bei den Präsidentenwahlen von Nixon, Reagan und zuletzt Trump gelungen. Erst durch die Zuwanderung in den wirtschaftlich boomenden Süden hat sich diese Konstellation vor allem in den Städten geändert. Auch viele Afroamerikanerinnen und -amerikaner sind in den Süden gegangen, nachdem es seit dem Bürgerkrieg Migration nur in die andere Richtung gab. Warnocks Sieg könnte ein Signal für den ganzen Süden werden.

epd: Warum hat das so lange gedauert?

Haspel: Weil der Rassismus und die Vorstellung einer Vorherrschaft der Weißen zur politischen DNA der USA gehören. Die meisten Väter der Unabhängigkeitserklärung hatten eine Republik der Weißen vor Augen. Wirtschaftlich basierte - und basiert - das System auf der Versklavung und Ausbeutung der Schwarzen und heute Latinos. Politische und demografische Prozesse wirken jetzt zusammen. Und solche Prozesse dauern eben oftmals lange und Grundhaltungen wirken lange fort. Auch bei uns ist es so, dass an vielen Orten, wo die NSDAP stark war, heute NPD und AfD hohe Stimmanteile haben, rassistische Gewalt erhöht ist. Leider sind das oft historisch protestantische Gegenden.

epd: Donald Trump konnte seinen Stimmenanteil auch bei den afroamerikanischen Wählerinnen und Wählern 2020 im Vergleich zu 2016 leicht ausbauen. Wie das?

Haspel: Viel stärker als bei uns sind in den USA persönliche Werte und Interessen für die Wahl entscheidend. Die größer werdenden migrantischen Mittelschichten, die von einer vermeintlich wirtschaftsfreundlichen Politik profitieren, unterstützen diese Politik zum Teil, obwohl Trump diese Gruppen abwertet. Bei Migrationsgruppen aus Kuba und Lateinamerika gibt es starke anti-sozialistische Affekte. Deshalb wurden die Demokraten als "Sozialisten" diffamiert. Bei den Latinas und Latinos ist der Anteil von Katholiken hoch, die Trumps Anti-Abtreibungspolitik unterstützen und dabei über seine persönliche Lebensführung hinwegschauen.

epd: Viele sich modern gebende Amerikaner kommen zunehmend in Konflikt mit radikalen Christen und evangelikalen Hardlinern. Welche Rolle kann hier Pastor Warnock spielen?

Haspel: Das ist schwer zu sagen. Seine Absicht ist allerdings klar: Es geht ihm um die Sammlung und Versöhnung der Strömungen der Schwarzen Kirchen. Der Titel seines letzten Buches heißt: "The Divided Mind of the Black Church", also etwa "Das gespaltene Bewusstsein der Schwarzen Kirche". Es geht ihm um die Verbindung von Friedensethik und Friedenstheologie und Gerechtigkeit, um die untrennbare Einheit von persönlichem Heil und gesellschaftlichem Heil und Wohlergehen. Auch das ist ein theologischer Impuls, der für unsere Strukturdebatten anregend sein könnte. Ob er damit allerdings die fundamental evangelikalen und charismatischen Strömungen, gerade die Trump-Unterstützer unter den Weißen, erreicht, ist fraglich.

epd: Der kommende Montag ist der dritte im Januar und damit seit 35 Jahren ein gesetzlicher Feiertag. Warum konnte sich der Martin Luther King Day, der immer in der Nähe seines Geburtstages am 15. Januar liegt, noch nicht richtig durchsetzen?

Haspel: Diese Wahrnehmung teile ich nur partiell. Bei den Afroamerikanerinnen und -amerikanern hat sich der King-Day durchgesetzt und wird mit vielfältigen Aktionen und Bildungsprogrammen begangen. Augenfällig ist die Abstinenz vieler Weißer. Ich war erstaunt, als ich das noch relativ neue National Museum of African American History and Culture in Washington, D.C. besuchte, dass das Publikum fast ausschließlich aus People of Color bestand. Aber der King-Day hat sich als Auftakt für den Black History Month im Februar fest etabliert.

epd: Seit einigen Jahren pflegen Sie im Zusammenhang mit Martin Luther King eine besondere Predigt-Tradition. Was planen Sie 2021?

Haspel: Wir werden am Sonntag nach dem King-Day, am 24. Januar, den inzwischen achten Martin Luther King-Gedenkgottesdienst in Weimar hygienekonform in der Jakobskirche feiern. Anlass für den Beginn dieser Tradition war der 50. Jahrestag des Besuches Kings in Ostberlin, der ja für die Kirchen in DDR bedeutsam und bis in die Friedliche Revolution hinein wirksam war. Mit dem Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus, über das King oft predigte, kommen zwei Aspekte in den Blick: Das Entscheidende ist nicht, dass der Reiche reich ist, sondern dass er die Armut und die Armen nicht zur Kenntnis nimmt. Und: Eigentlich wissen wir ja was los ist, aber schauen lieber weg - beim Klima, bei der weltweiten Armut, Migration und Ungerechtigkeit. Vielleicht schaffen wir ja, wie King, wie Warnock, hinzuschauen, zu sagen was ist, und zu tun, was nötig und möglich ist. We shall overcome!