Ehemaliger Kirchenasyl-Koordinator über die Lage in Afghanistan

Nürnberg (epd). Eine „völlige Veränderung der Asylpolitik“ fordert der Vorsitzende des Vereins „matteo - Kirche und Asyl“ mit Sitz in Nürnberg, Stephan Reichel. Angesichts der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brauche es eine sofortige Rückholung der aus Deutschland abgeschobenen Flüchtlinge, sagte der ehemalige Kirchenasyl-Koordinator der bayerischen Landeskirche im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Evakuierung der Ortskräfte sei ebenso nötig wie ein von der NATO gesicherter Fluchtkorridor.

Die Lage in Kabul ist nur wenige Tage nach dem Abzug der im Land stationierten NATO-Truppen laut Reichels Kontakten vor Ort „völlig außer Kontrolle“ und „hochgefährlich“. Sowohl aus Deutschland wie aus Afghanistan erreichten ihn Hilfe- und Notrufe. Alle Gründe für die Warnungen des Vereins, nicht nach Afghanistan abzuschieben, hätten sich leider bestätigt. Niemand der verantwortlichen Politiker könne sich herausreden, dass das nicht zu erwarten gewesen wäre, sagte Reichel.

Er forderte eine Veränderung der Asylpolitik. Es könne nicht sein, dass in Erstverfahren bisher nur 40 Prozent der Asylbewerber aus Afghanistan eine Anerkennung bekämen, dann aber über die Hälfte der negativen Bescheide von Gerichten aufgehoben werde. „Wenn eine Baubehörde hier auch nur fünf Prozent ihrer Bescheide durch Gerichte aufgehoben bekäme, wäre die Hölle los“, sagte Reichel. Die verantwortlichen Politiker müssten in die Verantwortung genommen werden. 

Das Interview im Wortlaut:

epd: Herr Reichel, was bekommen Sie hier von der dramatischen Entwicklung in Afghanistan mit?

Stephan Reichel: Ich habe in den letzten Tagen Hilfe- und Notrufe bekommen, sowohl aus Deutschland wie aus Afghanistan. Die geben wieder, was wir jetzt auch wissen: dass die Lage in Kabul völlig außer Kontrolle und hochgefährlich ist. Für alle, die in irgendeiner Weise im Fokus der Taliban sind, aber auch für die anderen.

epd: Was berichten Ihnen die Menschen?

Reichel: Wir haben Kontakt zu einem jungen Mann, der vor zwei Jahren freiwillig nach Afghanistan zurückgegangen ist. Er wäre sonst abgeschoben worden, von der Ausländerbehörde Oberpfalz. Der wollte jetzt mit einem Ausbildungs- oder Studienvisum zurückkehren. Der sitzt jetzt in Kabul fest und ist in panischer Angst.

epd: Hat er die Möglichkeit, da rauszukommen?

Reichel: Es gibt wohl eine geduldete Fluchtbewegung in Richtung pakistanischer Grenze. Aber nur, wenn man viel Geld hat. Und er kommt nicht mehr an Transferzahlungen, weil alle Banken und auch Western Union nicht mehr auszahlen.

epd: Welche Hilferufe erreichen Sie aus Deutschland?

Reichel: Heute morgen hat mich ein sehr verzweifelter Mann aus Passau angerufen, in Tränen, ob ich seine Brüder retten kann. Die haben bei der Polizei in Masar-i-Scharif gearbeitet, sind nach Kabul geflüchtet und da hört er nichts mehr von ihnen. Und gestern hat mich die Verlobte eines Afghanen, der gegen alle unsere Einsprüche, auch von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, im Juli abgeschoben wurde, kontaktiert. Sie standen kurz vor der Heirat.

epd: Weswegen wurde er abgeschoben?

Reichel: Das Vergehen war Fahren ohne Führerschein. Die Verlobte ist völlig aufgelöst. Ich kenne den jungen Mann persönlich. Das geht mir nahe - bei aller Distanz. Solche Situationen hatte ich bisher selten, wo so viele Betroffene in ganz konkreter Lebensgefahr an mich herantreten. Eine Situation, die seit fünf Jahren hätte vorausgesehen werden können.

epd: Wie beurteilen Sie es, dass seit 2016 wieder nach Afghanistan abgeschoben wird?

Reichel: Wir sind sehr aufgebracht, dass nach Afghanistan abgeschoben wurde. Alle unsere Warnungen und Appelle haben sich jetzt bestätigt. Niemand der Verantwortlichen, angefangen beim Innenminister Horst Seehofer (CSU), aber auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), kann sich rausreden, dass das nicht zu erwarten gewesen wäre. Bis vor wenigen Tagen hat auch Außenminister Heiko Maas (SPD) behauptet, es gebe sichere Fluchtgebiete innerhalb Afghanistans.

epd: Aus welchen Gründen werden Afghanen meistens abgeschoben?

Reichel: Es gibt keine offizielle Statistik. Wir wissen aber, dass über die Hälfte der über tausend Afghanen und Afghaninnen, die seit Wiederaufnahme der Abschiebung 2016 abgeschoben wurden, völlig unbescholten waren. Und sonst waren das oft Bagatelldelikte wie Schwarzfahren, Fahren ohne Führerschein, einen Joint geraucht, solche Dinge. Ich hab neulich schon gesagt: Ein Drittel der deutschen Jugendlichen müsste man nach diesen Kriterien auch abschieben.

epd: Was fordern Sie jetzt konkret von der Politik?

Reichel: Wir fordern eine Rückholung der aus Deutschland abgeschobenen Flüchtlinge. Wir fordern natürlich auch die Evakuierung der Ortskräfte. Und wir fordern die Einrichtung eines Fluchtkorridors, der von der NATO gesichert werden muss. Darüber hinaus fordern wir eine völlige Veränderung der Asylpolitik.

epd: Was genau meinen Sie damit?

Reichel: Afghanen und Afghaninnen bekommen in den Erstverfahren bisher nur 40 Prozent Anerkennung. Über die Hälfte dieser negativen Bescheide wird aber dann von Gerichten aufgehoben. Auch das ist ein Skandal. Das BAMF ist eine ganz normale Behörde. Wenn eine Baubehörde hier auch nur fünf Prozent ihrer Bescheide durch Gerichte aufgehoben bekäme, wäre die Hölle los.