Drei Nägel für den Frieden

Würzburg (epd). Mit kräftigem Schwung schlägt Gerhard Dikert seinen Schmiedehammer auf glühenden Schwarzstahl. Metall kracht auf Metall, laut und schrill tönt es durch die Schlosserei der Justizvollzugsanstalt Würzburg - immer wieder, bis das Glühen erlischt. Dann steckt der Mann in der blauen Häftlingskleidung, der in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, den Stab zurück in die Glut der Esse. Drei ellenlange Stahlteile liegen dort, eines nach dem anderen wird bearbeitet. Nach etwa drei Stunden hat der gelernte Bauschlosser ein Kreuz geformt. Nicht irgendeines, sondern ein Nagelkreuz. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es weltweit ein Symbol für Versöhnung zwischen den Nationen. Die offiziellen Kreuze der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft kommen aus Würzburg. Aus dem Knast.

Seit 2004 werden sie in der Schlosserei der JVA gefertigt. Etwa 20 Stück der rund 40 Zentimeter hohen Stahlkreuze gehen jedes Jahr an ökumenische Gruppen, Kirchengemeinden, Schulen oder Jugendwerke in aller Welt. "In den letzten paar Jahren haben wir Kreuze nach Israel, Kuba und an viele Gemeinden in Europa geschickt", erzählt Wolfgang Dobler, technischer Leiter der JVA-Werksbetriebe. Und natürlich auch nach England. Im britischen Coventry nahm die Geschichte der Nagelkreuzgemeinschaft schließlich ihren Anfang. 

Am 14. November 1940 flog die deutsche Luftwaffe des NS-Regimes nicht ihren ersten, aber den folgenreichsten Angriff auf die Stadt rund 150 Kilometer nordwestlich von London. Spreng- und Brandbomben töteten Hunderte Menschen, unzählige Wohnungen sowie die Industrieanlagen der Stadt wurden zerstört - und auch die mittelalterliche Kathedrale. 

Dompropst Richard Howard rief in seiner darauffolgenden Weihnachtsbotschaft zur Versöhnung auf. Nicht Hass, sondern der gemeinsame Einsatz für den Frieden sollten die Zukunft prägen. Drei große Zimmermannsnägel aus dem Dachstuhl der zerstörten Kathedrale ließ er bergen und als Kreuz zusammensetzen. Das Versöhnungs- und Friedenszeichen Nagelkreuz war erschaffen. 

Kirchengemeinden verschiedener Konfessionen und ökumenische Gruppen weltweit können sich der Gemeinschaft anschließen und Nagelkreuzzentrum werden. In Hamburg gehören die Hauptkirche St. Katharinen und das Mahnmal St. Nikolai dazu. Auch Kieler Marktkirche und die Lübecker Marienkirche zählen zum Netzwerk. In Mecklenburg-Vorpommern sind es die Rostocker Innenstadtkirche, St. Marien in Stralsund und die Inselkirche von Hiddensee. Als äußeres Zeichen der Verbundenheit erhalten sie von der Kathedrale in Coventry ein Nagelkreuz - gefertigt in der JVA Würzburg. 

"Wir übernehmen aber auch Sonderanfertigungen", sagt Matthias Bernet, der Leiter des Arbeitswesens in der JVA. Und der Schlossermeister des Gefängnisses, Erich Sendner, ergänzt: "Aktuell arbeiten wir an einer größeren Edelstahl-Version eines Nagelkreuzes." Das soll zwischen Weihnachten und Neujahr an eine große Kathedrale in England übergeben werden. Die Bestellungen kommen fast alle aus Coventry. "So eines haben wir aber schon einmal angefertigt", erläutert Schlossermeister Sendner: Es steht seit Februar 2005 in der Dresdner Frauenkirche. 

Gerhard Dikert schaltet die dröhnende Belüftung der Esse ab, nimmt einen der inzwischen erkalteten Schwarzstahl-Stäbe und hämmert gleichmäßig wie der Taktschlag eines Metronoms auf den Stab ein. Nun nicht mehr mit einem schweren Hammer, sondern mit einem filigranen Kugelhammer. Damit schlägt er Hunderte kleine Dellen in die bislang glatte Oberfläche der vierkantigen Nagelstäbe. Das ergibt nicht nur ein schönes individuelles Muster - dieses Kaltschmieden härtet auch das Material, sagt Sendner: "Das ist Handarbeit wie vor 100 Jahren. Das lernt man heute kaum noch, das macht auch kaum noch einer."

Der 73-jährige Dikert hat Schmieden noch richtig intensiv gelernt, wie er erzählt. Heute spielt es in der Ausbildung - auch in der JVA-eigenen Schlosserei - nur noch eine Nebenrolle. Dort wird vor allem gefräst und geschweißt: Auftragsarbeiten zum Beispiel für Bauunternehmen, aber auch für den Online-Shop "Haftsache". 

Ihm sei "ziemlich egal", wofür er die Stahlteile schmiede und hämmere, sagt Dikert: "Das ist für mich ein Job wie jeder andere auch." Wichtig ist für ihn etwas anderes: "Für mich bedeutet die Arbeit hier in der Schlosserei, dass ich aus meiner Haftzelle raus komme. Das ist es, was für mich zählt." 

In den Augen von Werkdienstleiter Wolfgang Dobler ist es etwas Besonderes, dass in Würzburg Kreuze geschmiedet werden, die in Dutzenden Nagelkreuzzentren weltweit stehen: "Das ist ja auch ein schönes Symbol: In der Haft werden Symbole für Versöhnung und Frieden erschaffen."

 

Hintergrund:

Was für eine Geste: Deutsche Bomber legen im Zweiten Weltkrieg das britische Coventry in Schutt und Asche - und der Dompropst der Stadt ruft zu Weihnachten aus den Ruinen der Kathedrale zur Versöhnung auf. Dies ist die Grundlage für das internationale Friedennetz der Nagelkreuzgemeinschaft.

In der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 fliegt die deutsche Luftwaffe in Coventry den schwersten Angriff auf eine britische Stadt. Große Teile des Zentrums werden zerstört, auch die Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert. Nur die Außenmauern stehen. Mehr als 550 Menschen sterben. Die deutsche Propaganda spricht fortan zynisch davon, die britischen Städte zu "coventrisieren". 

Und dennoch appelliert der damalige Dompropst von Coventry, Richard Howard, Weihnachten 1940 in einer Rundfunkübertragung aus den Ruinen der St. Michaels-Kathedrale an seine Zuhörer, keine Rache zu üben, sondern gemeinsam an einer friedlichen Zukunft zu arbeiten. In der zerbombten Kathedrale lässt er die Worte "Father forgive" ("Vater vergib") einmeißeln. Für ihn bedeuten die Worte die Verpflichtung, dem Feind die Hand zu reichen. 

Aus drei mittelalterlichen Zimmermannsnägeln aus der zerstörten Kirche wird ein Kreuz zusammengefügt: das Nagel-Kreuz. Howard gründet ein Netzwerk für Frieden und Versöhnung, aus dem 1974 die internationale Nagelkreuzgemeinschaft entsteht. Als Symbol für den Frieden wird bereits 1947 ein Nagelkreuz in eine Stadt des ehemaligen Feindes gebracht, nach Kiel.

Zu dem Versöhnungswerk gehören heute Gemeinschaften auf der ganzen Welt. In Deutschland sind es rund 70, etwa die KZ-Gedenkstätte Dachau, die Dresdner Frauenkirche oder die Gedächtniskirche in Berlin. Im Norden zählen neben der Kiel Marktkirche die Hamburger Hauptkirche St. Katharinen und das Mahnmal St. Nikolai, sowie die Marienkirchen in Lübeck und Stralsund dazu. Freitagmittags wird in Coventry und vielen Nagelkreuzzentren der Welt das gemeinsame Versöhnungsgebet "Vater vergib" gebetet.