"Die Welt ist nicht schwarz-weiß"

Heidelberg (epd). Vincent Stüber und Marilena Geugjes sind im Vorstand des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK). Gemeinsam mit über 200 Mitarbeitern veröffentlichen sie jährlich das "Konfliktbarometer", eine Übersicht über alle politischen Konflikte auf der Welt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklären sie, wie sie die Zahl der Todesopfer eines Konflikts im Südsudan ermitteln und warum die Welt heute gewalttätiger erscheint. 

epd: Sie erfassen jedes Jahr die Zahl der weltweiten Konflikte. 2018 sank die Zahl der Kriege von 20 auf 16. Ist die Welt ein besserer Ort geworden? 

Geugjes: Vorsicht! Das ist journalistisches Denken. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Tatsache ist: Absolute Zahlen sagen wenig aus. Kriege sind keine absolute Kategorie, sondern eine Intensitätsausprägung auf einem hochkomplexen Kontinuum. Mal flammen sie auf, mal gibt es Verhandlungen, und mal gibt es externe Gründe, warum Gewalt nachlässt, wie beispielsweise Klimaverhältnisse. Wenn Konflikte weniger gewaltsam werden, bedeutet das nicht automatisch, dass die Lage der Menschen vor Ort besser ist. Daher können wir nicht einfach behaupten, dass die Welt ein besserer Ort geworden ist, weil beispielsweise in Afrika einige Konflikte deeskaliert sind. Konflikte und ihre Konsequenzen sind komplex und müssen immer in einem zeitlichen und regionalen Kontext betrachtet werden.  
Wir veröffentlichen jedes Jahr unsere Analysen zu gewaltsamen und gewaltfreien Konflikten, weil wir die Bereitstellung von Informationen für einen wichtigen Schritt zu mehr Bewusstsein und langfristig auch zu mehr Frieden halten. Die EU-Kommission und die Vereinten Nationen beispielsweise nutzen das "Konfliktbarometer", um die Situation in den Ländern einzuschätzen und ihr Verhalten daran auszurichten. 

epd: Woher bekommen Sie Ihre Informationen? 

Stüber: Wir haben über 200 weitestgehend studentische Mitarbeiter, die die weltweite Presselandschaft im Auge behalten. Dazu gehören Agenturen, Zeitungen, Radiosender, Blogs oder Twitter. Das ist aus der Ferne die einzige Möglichkeit, Zahlen zu bekommen. 

Dabei stellen sich natürlich einige Probleme, weswegen wir es uns nicht anmaßen, vor allem für wenig berichtete Konflikte exakte Zahlen angeben zu können. Unsere Mitarbeiter decken zahlreiche Sprachen ab, etwa Portugiesisch, Arabisch, Farsi oder Chinesisch. Aber für manche Konflikte ist es sehr schwierig, Informationen zu erhalten, da sie in ländlichen Räumen stattfinden oder aber das Gebiet für Journalisten zu gefährlich ist. Außerdem nutzen wir Zahlen nur, wenn wir mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen haben. Dabei lesen wir oft verschiedene oder widersprechende Zahlenangaben. Beispiel Massenproteste: Die Organisatoren einer Demo geben oft eine doppelt so hohe Zahl an wie die Polizei.

Wir versuchen mit diesem Quellenproblemen und damit einhergehenden Kontroversen möglichst transparent umzugehen. So listen wir die verschiedenen Angaben auf und arbeiten mit der kleinsten gemeinsamen Zahl weiter. Es ist kaum möglich, nach einem Zusammenstoß im Südsudan die Zahl der Verletzten exakt zu ermitteln und es wird immer widersprüchliche Angaben geben. Die schwierigste Arbeit von Konfliktbeobachtern besteht somit in einem Abwägen möglicher Szenarien unter Berücksichtigung der konfliktspezifischen Gegebenheiten.

epd: Wann wandelt sich ein Konflikt zu einem Krieg und umgekehrt? 

Stüber: Vereinfacht gesagt, beobachten wir die Intensität von Auseinandersetzungen. Intensität messen wir, in dem wir die Mittel ansehen, in unserem Fall Waffen und Personalumfang, sowie die Folgen von Konfliktgeschehen analysieren. Wir recherchieren hierzu, ob Waffen genutzt worden sind und wenn ja, ob es sich um leichtere Waffen wie Stichwaffen oder schwere Waffen wie Raketen handelte. Auch betrachten wir den Umfang des Personaleinsatzes. Die Konfliktfolgen bewerten wir anhand des Umfanges von Zerstörung - etwa im Bereich Infrastruktur oder Wirtschaft -, sowie anhand von Flüchtlings- und Todeszahlen. Anhand dieser Faktoren gewichten wir die Intensität der Gewalt. 

Es ist uns wichtig, auch gewaltlose Konflikte zu beobachten, denn diese können durch einen kleinen Auslöser plötzlich eskalieren und zu neuen Dynamiken führen. Dies ist zum Beispiel bei der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung der Fall. Diesen Konflikt haben wir über lange Jahre als gewaltfrei beobachtet, bis sich in 2016 und 2017 sukzessive andere Dynamiken ergaben. Viele zwischenstaatliche Konflikte sind gewaltfrei, aber ebenso hoch relevant für das Verständnis unserer heutigen politischen Situation. Insgesamt haben sich die Konflikttypen in den vergangenen Jahren auch sehr verändert. 

epd: Inwiefern? 

Geugjes: Früher kämpfte vor allem Staat gegen Staat gegeneinander. Das passiert heute seltener, nicht zuletzt, weil die Diplomatie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgebaut worden ist und Wirtschaftsintegration sowie die Möglichkeit von Sanktionen dazu geführt haben, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen Ländern seltener gewaltsam ausgetragen wurden. Die Leistungen der EU und der UN an dieser Stelle werden oft unterschätzt. 

Allerdings sind neue Formen der Auseinandersetzungen entstanden, es gibt mehr inner- und transstaatliche Kriege. Die Ursachen dafür sind komplex. Eine Rolle spielen sicherlich Globalisierung und Digitalisierung, die neue Formen der Organisation ermöglichen. In zahlreichen Ländern gibt es beispielsweise islamistische Gruppierungen, die sich dem IS angeschlossen haben. Ohne das Internet und Messengerdienste wäre für sie dieser Zusammenschluss kaum möglich gewesen. Auch ist das Internet hilfreich für die Verbreitung von Ideologie und das Mobilisieren von Gleichgesinnten.  

epd: Gefühlt gibt es heute viel mehr Gewalt in der Welt als zum Beispiel in den 90er Jahren. Ist das so? 

Stüber: Empirisch ist das für uns kaum zu beantworten. Entscheidend sind hier eher die Wahrnehmung und die Omnipräsenz von neuen Informationen. Wir haben heute viel mehr Informationszugänge als früher, zum Beispiel über Youtube, Twitter, Facebook und Echtzeit-Journalismus. Daher bekommen wir von diversen Konflikten viel mehr mit.