Die letzten 23 Tage des Deutschen Reichs

Flensburg (epd). Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren bekam das Deutsche Reich noch einen neuen Reichspräsidenten. Einen Tag vor seinem Suizid am 30. April 1945 ernannte Adolf Hitler Großadmiral Karl Dönitz (1891-1980) zu seinem Nachfolger. Viel regieren konnte er von seinem Dienstsitz Flensburg aus allerdings nicht. Nach 23 Tagen verhafteten die Briten ihn. Dönitz' wichtigste Aufgabe war die Organisation der Kapitulation am 8. Mai 1945.

Der Großadmiral gehörte offenbar zu den wenigen, denen Hitler noch vertraute. Mit seiner Ernennung verfügte Hitler zugleich eine Kabinettsliste: Joseph Goebbels sollte Reichskanzler und Martin Bormann Parteiminister werden - doch ehe sich die neue Reichsregierung bilden konnte, begingen beide Suizid. Mit Dönitz an der Spitze des Reichs lagen militärische und politische Befehlsgewalt nun in einer Hand. 

Der gebürtige Berliner ging nach dem Abitur zur Kaiserlichen Marine und stieg im Ersten Weltkrieg zum U-Boot-Kommandanten auf. In der Weimarer Republik war er weiter bei der Marine tätig. Er sei anfangs Monarchist gewesen und habe später dann mit dem Nationalsozialismus sympathisiert, urteilt die Historikerin Marlis Steinert. Hitler habe er bewundert, aber keine persönliche Beziehung zu ihm gehabt. 1943 wurde Dönitz Oberbefehlshaber der Marine. 

Mit der Ernennung von Dönitz zum Reichspräsidenten wurde Schleswig-Holstein faktisch zum politischen Zentrum des Deutschen Reichs. Berlin war von der Roten Armee eingenommen, die alliierten Streitkräfte stießen von Westen immer weiter vor, Konzentrationslager waren eben befreit, es hatte letzte Todesmärsche gegeben, Städte lagen in Trümmern. Im Norden waren nur Schleswig-Holstein und Ostfriesland noch unbesetzt. Der offizielle Funkspruch aus Berlin zu seiner Ernennung erreichte Dönitz in Plön erst am 30. April nach Hitlers Selbstmord. 

In seiner ersten Rundfunkansprache als Reichspräsident am 1. Mai forderte er die Fortsetzung des militärischen Kampfes gegen "den vordrängenden bolschewistischen Feind". Der gegenüber Hitler geleistete soldatische Treueid gelte nunmehr ihm selbst. 

Am 2. Mai kam die neue Reichsregierung im Landratsamt im idyllischen Eutin zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Hier bestanden noch Funk- und Flugverbindungen. Starker Mann der neuen Regierung war Lutz Graf Schwerin von Krosigk, der Finanzminister, Außenminister und als "Leitender Minister" eine Art Reichskanzler wurde. Regiert wurde in Eutin allerdings nicht.

Der Einmarsch britischer Truppen am 3. Mai in Lübeck gab Dönitz offenbar den letzten Anstoß zur Kapitulation. In seinem Auftrag unterzeichnete Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg am 4. Mai auf dem Timeloberg bei Lüneburg eine Teilkapitulation für Nordwestdeutschland, Dänemark und die Niederlande. Einen Tag später folgte bei München die Teilkapitulation für den Süden. 

Dönitz wollte offenbar Zeit gewinnen, damit möglichst viele deutsche Soldaten nicht in sowjetische, sondern in britische oder amerikanische Gefangenschaft kamen. Am 7. Mai unterschrieb Generaloberst Alfred Jodl im französischen Reims die Gesamtkapitulation. Auf sowjetisches Drängen wurde die Zeremonie am 9. Mai in Berlin-Karlshorst wiederholt. Dönitz gab sie offiziell am 8. Mai, 12.30 Uhr, über den Flensburger Sender bekannt. 

"Es war der Tag der Befreiung", sagte 40 Jahre später der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner legendären Rede zum 8. Mai 1985. "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."

Dönitz und seine Mitarbeiter setzten auch nach dem 8. Mai ihre Regierungsgeschäfte in einer "gespenstisch anmutenden Scheinwelt" fort, jeden Morgen um 10 Uhr trat das Kabinett zusammen, wie der Historiker Volker Ullrich beschreibt. Demut oder gar Reue zeigte Dönitz nicht. Berichte über KZ-Verbrechen, so die Historikerin Steinert, habe er als Einzelfälle oder ausländische Propaganda abgetan. KZ-Insassen seien für ihn "Verbrecher", "Asoziale" und "Deserteure" gewesen. Noch in seinem Aufruf an die Wehrmacht von 11. Mai heißt es, deutsche Soldaten sollten mit "Stolz und Würde" auftreten. Was sie geleistet hätten, sei "ein nie dagewesenes Heldentum". 

Mangelnde Distanzierung von der alten Machtelite, Druck der ausländischen Presse und das Drängen der Sowjets führten bei den Briten dazu, die Reichsregierung abzusetzen: Am 23. Mai wurden Dönitz, Jodl und Friedeburg in Flensburg auf das Schiff "Patria" beordert und in britische Gefangenschaft genommen. Dönitz, Jodl und Albert Speer mussten für die zahlreich angereisten Pressefotografen im Hof des Polizeipräsidiums noch posieren. Das Bild der drei NS-Größen als Kriegsverlierer zählt zu den Ikonen der Fotografie-Geschichte. 

Die Mitarbeiter der Reichsregierung wurden weniger respektabel behandelt. Bewaffnete britische Soldaten stürmten die Räume, Offiziere und Sekretärinnen mussten sich ausziehen und wurden nach Waffen und Gift durchsucht. 

Dönitz wurde nach Luxemburg geflogen und musste sich ein Jahr später in den Nürnberger Prozessen verantworten. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er in Berlin-Spandau absaß. Er starb am 24. Dezember 1980 in Aumühle bei Hamburg.