"Die Axt an die Wurzel des Nationalsozialismus legen"

Hannover (epd). Am Morgen des 9. Januar 1945 führen Polizisten dem nationalsozialistischen "Volksgerichtshof" in Berlin acht Männer vor. Einer der Angeklagten ragt schon rein körperlich heraus: Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945), Jurist und Gutsbesitzer aus Schlesien, ist zwei Meter groß, so dass er sich zu Gesprächspartnern manchmal hinunterbeugt. Gemeinsam mit den sieben anderen muss sich der 37-Jährige vor dem NS-Gericht wegen des Vorwurfs des Hochverrats verantworten. Allen droht die Todesstrafe.

Moltke, Urgroßneffe des preußischen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke, gehörte zu den wichtigsten Köpfen des bürgerlichen Widerstandes gegen Hitler. Vor 75 Jahren, am 23. Januar 1945, wurde er hingerichtet. 
Ab etwa 1940 baut Moltke mit Freunden ein geheimes Netz von Gleichgesinnten auf, die den NS-Staat ablehnen. "Sie beugten sich nicht dem nationalsozialistischen Totalitätsanspruch", sagt der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel. 

Zentrum der Gruppe ist Moltkes schlesisches Gut Kreisau, weshalb bald vom "Kreisauer Kreis" die Rede ist. Heute ist in der Anlage im polnischen 200-Einwohner-Dorf Krzyzowa eine Internationale Jugendbegegnungsstätte mit Gästehäusern um eine zentrale Wiese entstanden. Im historischen Schloss wird eine Dauerausstellung zum Widerstand gegen Hitler gezeigt. 

Im Januar 1945 sieht sich Moltke im Volksgerichtshof dem gefürchteten Gerichtspräsidenten Roland Freisler gegenüber. Er thront hinter einem riesigen Tisch, gesäumt von vier Beisitzern. Freisler ist für seine Wutanfälle bekannt, bei denen er Beschuldigte regelrecht niederbrüllt.

Das bekommt auch Moltke zu spüren, als er die Gespräche der Kreisauer gegen die Anklage verteidigt. "Ein Orkan brach los", schreibt der Graf in einem geheim übermittelten Brief aus der Gefängniszelle an seine Frau Freya (1911-2010). "Er hieb auf einen Tisch, lief so rot an wie seine Robe und tobte: So etwas verbitte ich mir, so etwas höre ich mir gar nicht an."

Zum Kreisauer Kreis zählen rund 20 Personen: Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Konservative und Theologen. Gemeinsam mit ihnen entwickelt Moltke Konzepte für ein Deutschland nach dem Ende der Nazi-Herrschaft. Bis 1943 kommt die Gruppe zu drei Tagungen im Kreisauer "Berghaus" zusammen, das auf einer grünen Anhöhe außerhalb des Gutshofes liegt und heute, teils efeuberankt, Besuchern offensteht. Die Grundideen der Kreisauer: ein Ende nationaler Machtpolitik, ein geeintes Europa und Grundrechte für jeden Einzelnen.  

Weil sie die moralischen Werte durch den NS-Staat zerstört sehen, messen sie dem Christentum und dem christlichen Menschenbild eine wichtige Rolle zu. In Kreisau habe "die Axt an die Wurzel des N.S. gelegt" werden sollen, schreibt Moltke kurz vor seinem Tod. Doch ab 1944 fliegt die Gruppe nach und nach auf.

Im Prozess sitzt Moltke dem NS-Richter mit Anzug und Krawatte an einem kleinen Tisch auf Augenhöhe gegenüber, bewacht von zwei Polizisten. "Ich sah ihm eisig in die Augen, was er offenbar nicht schätzte. Und plötzlich konnte ich nicht umhin zu lächeln."

Moltke ist der Nationalsozialismus von Anfang an zuwider. Sein Großvater hat britische Wurzeln und stammt aus Südafrika, von ihm hat Moltke seien zweiten Vornamen James. Zeitlebens bleibt der liberal und demokratisch denkende Gutsbesitzer der englischsprachigen Welt eng verbunden. In London lässt er sich Mitte der 30er Jahre zum Anwalt für britisches Recht weiterbilden.

Als Protestant ist Moltke tief durchdrungen vom christlichen Glauben. "Moltke war Christ und Jurist", erläutert Johannes Tuchel. "Er schöpfte seine Kraft aus dem Glauben, aus einer tiefen Humanität und der Vorstellung, dass in Deutschland wieder rechtsstaatliche Zustände hergestellt werden müssten." Ein Attentat auf Hitler lehnt Moltke im Unterschied zu anderen Widerstandskämpfern allerdings ab. Das neue Deutschland soll nicht mit einem Mord beginnen.

Weil er nicht in den Dienst des NS-Staates treten will, wird Moltke 1935 Rechtsanwalt in Berlin und vertritt Juden, die auswandern wollen. Ab 1939 verfasst er Gutachten zum Kriegsvölkerrecht für die Abwehr, den geheimen Nachrichtendienst der Wehrmacht. Dort sind im Stillen bereits andere Hitler-Gegner tätig, gedeckt von Admiral Wilhelm Canaris.

Im Volksgerichtshof spitzt Freisler die Verhandlung ganz auf die christliche Grundhaltung Moltkes zu, die mit dem Nationalsozialismus unvereinbar sei. Er legt ihm die Debatten der Kreisauer als Hochverrat aus. "Hochverrat begeht, wer dem Herrn Freisler nicht passt", notiert Moltke später sarkastisch. Er wird zum Tode verurteilt. "Wir haben nur gedacht", schreibt er. "Und vor den bloßen Gedanken hat der NS eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will."

Die evangelische Theologin Margot Käßmann sieht Moltke heute als Vorbild für die jüngere Generation in Europa. "Moltke war ein Mann, der mit einer ganz klaren Überzeugung vor den Mächtigen stand", sagt die frühere hannoversche Landesbischöfin, die zum Kuratorium der "Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau" gehört. "Das war mehr als Widerstand, das geht darüber hinaus." 

Am 23. Januar 1945 wird Moltke in der Hinrichtungsstätte Plötzensee ermordet. Die Entwürfe der Kreisauer jedoch überdauern das Kriegsende unter den Dachsparren des Kreisauer Schlosses, das nach einer Renovierung heute in neuem Glanz erstrahlt. Den Briefwechsel mit ihrem Mann versteckt Freya von Moltke bis zum Herbst 1945 in den Bienenstöcken. Und Ideen der Kreisauer sind lebendig: Auf dem früheren Gutshof der Moltkes sind seit 1998 Jugendliche aus vielen Ländern zu Gast.

Der Kreisauer Kreis gehört zu den wichtigsten Gruppen im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er vereinte unter anderen Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Konservative und Theologen, die Pläne für ein Deutschland nach dem Ende des NS-Staates entwickelten. Zentrum der Gruppe war das Gut Kreisau (heute Krzyzowa) in Niederschlesien im heutigen Polen. Gutsbesitzer Helmuth James von Moltke (1907-1945) und sein Freund Peter Yorck von Wartenburg (1904-1944) waren ihre führenden Köpfe.

Zum bürgerlich-zivilen Widerstand des Kreisauer Kreis gehörten auch die Sozialdemokraten Carlo Mierendorff, Adolf Reichwein und Julius Leber, der Jesuitenpater Alfred Delp, der Diplomat Adam von Trott zu Solz und der evangelische Theologe und spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier. Insgesamt umfasste die Gruppe rund 20 Personen und ebenso viele Sympathisanten und Mitwisser. Sie hofften auf einen Staatsstreich des Militärs oder fassten bereits die Niederlage Deutschlands im Krieg ins Auge. Einige Mitglieder wie Moltke lehnten ein Attentat auf Hitler ab. Andere unterhielten Verbindungen zur Widerstandsgruppe des 20. Juli um Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944).

Von 1941 bis 1943 kam der Kreisauer Kreis zu drei zentralen Tagungen auf Gut Kreisau zusammen. Seine Grundideen waren ein Ende nationaler Machtpolitik, ein geeintes Europa, Grundrechte für jeden Einzelnen und eine Neubegründung der Moral im Geiste des Christentums. Eine enge Verbindung von Staat und Kirche war Teil der Pläne. Nach der Verhaftung Moltkes im Januar 1944 löste sich die Gruppe praktisch auf. Einige ihrer Mitglieder wie Yorck, Wartenburg, Trott zu Solz, Leber und Delp wurden vom NS-Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Andere kamen mit dem Leben davon oder blieben unentdeckt.