Deutschland setzt Abschiebungen nach Afghanistan aus

Berlin, Düsseldorf (epd). Angesichts der Taliban-Offensive schiebt Deutschland vorerst keine Afghanen mehr ab. Innenminister Horst Seehofer (CSU) habe aufgrund der aktuellen Sicherheitslage entschieden, Rückführungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen, teilte das Bundesinnenministerium am Mittwoch mit. „Sobald es die Lage zulässt, werden Straftäter und Gefährder wieder nach Afghanistan abgeschoben“, erklärte Seehofer. Die Taliban erobern zurzeit immer mehr Territorium am Hindukusch.

Anfang vergangener Woche war ein Abschiebeflug aus München mit sechs Männern an Bord wegen zweier Anschläge in Kabul abgebrochen worden. Das Innenministerium hatte angekündigt, die Abschiebung rasch nachzuholen. Zuletzt hatte Deutschland vor allem Straftäter und Gefährder nach Afghanistan zurückgeschickt. Seit Beginn des Jahres wurden 167 Personen nach Afghanistan zurückgeführt, wie eine Sprecherin des Innenministeriums dem Evangelischen Pressedienst (epd) mitteilte.

Die afghanische Regierung hatte die EU-Mitgliedsstaaten bereits Mitte Juli angesichts der sich verschlechternden Lage um einen Abschiebestopp gebeten. Mehrere europäische Länder, darunter Schweden und Norwegen, verzichten schon länger auf Rückführungen nach Afghanistan. Anfang August hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Abschiebung aus Österreich aufgrund der Sicherheitslage in Afghanistan gestoppt. Dennoch hielt das Bundesinnenministerium bis zuletzt an den Rückführungen fest.

Seit dem Abzug nahezu aller internationaler Truppen und dem Beginn einer Taliban-Offensive Anfang Mai erobert die radikal-islamische Miliz derzeit immer mehr Gebiete. Am Mittwoch fiel mit Badachschan im Nordosten des Landes die neunte der insgesamt 34 Provinzen in die Hände der Taliban, wie der TV-Sender Tolo News berichtete. Mit Ausnahme der Provinz Balkh ist der Norden des Landes unter Taliban-Herrschaft. In Kundus, wo früher die Bundeswehr stationiert war, nahmen die Taliban den Flughafen der gleichnamigen Provinzhauptstadt ein.

Beobachter gehen davon aus, dass die afghanische Armee den Taliban nicht mehr viel entgegensetzen kann. Der Aufbau effektiver Streitkräfte durch die internationale Militärallianz sei „total fehlgeschlagen“, sagte der Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network, Thomas Ruttig, dem epd. Zwar seien die afghanischen Truppen gut ausgerüstet, aber es fehle ihnen an Kampfmoral. Die Soldaten fühlten sich von dem plötzlichen und bedingungslosen Abzug der internationalen Truppen im Stich gelassen.

Unter dem Vormarsch leidet vor allem die Zivilbevölkerung. In der ersten Jahreshälfte sind den Vereinten Nationen zufolge mindestens 1.659 Zivilisten getötet und 3.524 weitere verletzt worden. Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet zeigte sich zudem besorgt über schweren Verbrechen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. So seien Frauen ausgepeitscht worden, wenn sie sich den Regeln der radikal-islamischen Miliz widersetzten. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit Beginn des Jahres 359.000 Afghaninnen und Afghanen vor den Kämpfen geflohen.

Pro Asyl begrüßte den Abschiebestopp. Er sei „mehr als überfällig“, erklärte der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation, Günter Burkhardt. „Es gibt keine sicheren Gebiete in Afghanistan, es gibt keinen internen Schutz vor der Taliban.“ Am Dienstag hatten 26 Organisationen und Menschenrechtsgruppen gefordert, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen - darunter unter anderem Pro Asyl, „Brot für die Welt“, Caritas, Diakonie und die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGFD).