Der tödliche Mexiko-Deal

Mexiko-Stadt (epd). Es ist bereits dunkel, als die ersten Schüsse fallen. Polizeisirenen heulen, Blaulichter durchdringen die Nacht. Plötzlich sackt auch Aldo Gutiérrez zu Boden. Eine Stunde lang liegt der Student auf der Straße, der Regen prasselt auf ihn nieder. "Wir dachten, er sei tot", erinnert sich ein Kommilitone. Doch der junge Mann überlebt - und liegt seit viereinhalb Jahren im Wachkoma. "Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen", sagt sein Bruder Leonel. "Die Kugel hat den Schädel durchdrungen und die Hälfte des Gehirns zerstört."

Sechs Menschen werden in dieser Nacht des 26. Septembers 2014 in der südmexikanischen Kleinstadt Iguala getötet. 43 Studenten werden verschleppt, bis heute fehlt von ihnen jede Spur. Für den Angriff werden lokale Polizisten und Kriminelle verantwortlich gemacht. Das Massaker im Bundesstaat Guerrero zählt zu den brutalsten, die Mexiko in seiner jüngeren Geschichte erlebt hat.

Vier Jahre nach der blutigen Nacht reist Leonel Gutiérrez nach Stuttgart. Dort besucht er den Prozess gegen fünf ehemalige Mitarbeiter der Rüstungsfirma Heckler & Koch vor dem Landgericht der Stadt. Vier Männer und eine Frau sitzen auf der Anklagebank, weil sie für den illegalen Export von Schusswaffen nach Mexiko verantwortlich sein sollen. Das Unternehmen soll knapp 5.000 Sturmgewehre vom Typ G36 in Bundesstaaten geliefert haben, für die die Exportbehörden wegen der schlechten Menschenrechtslage keine Genehmigung erteilt hatten.

Gutiérrez will verstehen, warum die Gewehre dennoch in seine Heimat gelangt sind. Denn eine dieser Schusswaffen hat höchstwahrscheinlich das Leben seines Bruders zerstört. Man könne zwar wegen fehlender ballistischer Untersuchen nicht absolut sicher sagen, ob die Kugel in Aldos Gehirn aus einem G36 stamme, erklärt der Anwalt Santiago Aguirre vom Menschenrechtszentrum ProDH. "Außer Zweifel aber steht, dass in genau dieser Situation mit G36-Gewehren geschossen wurde." Unbestritten ist auch, dass die Mörder Julio Cesar Mondragóns die Waffe getragen haben. Auch er starb in dieser Nacht. Seine Peiniger haben den Studenten vor seinem Tod gefoltert, ihm die Augen ausgerissen und die Gesichtshaut abgezogen.

Am Morgen nach dem Massaker fanden die Ermittler 38 der Sturmgewehre in der Polizeiwache von Iguala. Mindestens sieben Polizisten trugen das Schießeisen in der Nacht. Dass Beamte derart brutal und gemeinsam mit Kriminellen agierten, wundert den Anwalt Aguirre nicht: "Es war bekannt, dass die Polizisten Menschenrechtsverletzungen verüben und mit der Drogenmafia kooperieren." Warum aber, so fragt er sich, sind die Schießeisen dennoch in der Region gelandet?

Im verarmten Guerrero kontrollieren kriminelle Banden große Landstriche. Konkurrierende Verbrecherorganisationen liefern sich Gefechte um die Kontrolle über Anbau von Drogen. Um den Transport von Opium, Heroin oder Marihuana abzusichern, brauchen sie Politiker, Polizisten und andere Beamte, die mit ihnen zusammenarbeiten. Möglicherweise standen die Studenten in Iguala unbeabsichtigt einem Drogentransport im Weg und wurden deshalb zum Ziel der Kriminellen.

Die korrupte Kooperation spielt in vielen Regionen von Mexiko eine Rolle. Deshalb sollten die Waffen nicht in die Bundesstaaten Jalisco, Guerrero, Chihuahua und Chiapas gelangen. Dennoch landeten 4.792 der insgesamt 9.652 nach Mexiko gelieferten Sturmgewehre nach Angaben des Käufers, des mexikanischen Verteidigungsministeriums, in diesen nicht genehmigten Regionen. Ein in Mexiko-Stadt ansässiger H&K-Handelsvertreter soll mit einem General und in Absprache mit der Firmenzentrale in Oberndorf im Schwarzwald Dokumente gefälscht haben, um den Verbleib der Waffen zu verschleiern.

Auch die deutschen Behörden haben versagt. Ein einziges Mal fuhr ein Botschaftsangehöriger nach Chiapas. Als ihm erklärt wurde, man schieße nur mit asiatischen Waffen, reiste er zufrieden wieder ab. Von den 561 in den Bundesstaat gelieferten H&K-Gewehren hatte er keines entdeckt.

Am Donnerstag soll im Stuttgarter Landgericht das Urteil verkündet werden. Leonel Gutiérrez ist gespannt. "Ich hoffe, dass der Prozess gut verläuft und die Verantwortlichen verurteilt werden", sagt er.

Eigentlich wollte seine Familie als Nebenklägerin auftreten. Das hatte die in Berlin ansässige Menschenrechtsorganisation ECCHR beantragt, doch die Richter lehnten ab. "Der Antragsteller ist mit Hinblick auf den Anklagevorwurf nicht Verletzter", hieß es. Im Prozess gehe es nicht um versuchten Mord, sondern um das Kriegswaffenkontrollgesetz. Dabei hätte Gutiérrez gerne vor Gericht gesprochen: "Ich hätte den Richtern berichtet, was mit den Waffen Schlimmes angerichtet wurde."