Bundespräsident blickt auf Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener

Sandbostel/Kr. Rotenburg (epd). Anonyme Gräberfelder bestimmen den Friedhof des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers im niedersächsischen Sandbostel bei Bremen. Doch mittendrin fallen ein Votivkreuz und eine Gedenktafel ins Auge, die an Anatolij Pokrowskij erinnern, der im Februar 1945 im Lazarett des Kriegsgefangenlagers starb. Nun stehen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender vor dem Kreuz und hören sich die dramatische Geschichte von Gerd A. Meyer an, der vor 75 Jahren als Sohn einer deutschen Frau und des jungen Russen geboren wurde.

An diesem Montag ist Steinmeier nach Sandbostel gekommen, mitten ins Moor, um in der Gedenkstätte auf dem Areal des ehemaligen NS-Lagers das Licht auf eine Opfergruppe zu richten, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte lange Zeit weitgehend im Schatten blieb: sowjetische Kriegsgefangene. Das tut er auch mit Blick auf den 22. Juni, den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Mit 27 Millionen Toten hatte die Sowjetunion die meisten Opfer des Zweiten Weltkrieges zu beklagen. Insgesamt kamen mehr als drei Millionen sowjetische Soldaten in deutscher Gefangenschaft ums Leben. In Sandbostel waren Schätzungen zufolge etwa 70.000 Rotarmisten interniert. Mindestens 4.700 starben hier, wahrscheinlich viel mehr.

Einer von ihnen war Anatolij Michailowitsch Pokrowskij. Er war 19 Jahre jung, als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel. Anstatt wie geplant ein Studium zu beginnen, wurde Anatolij zum Militär eingezogen und geriet schon kurz darauf in Kriegsgefangenschaft. Über Sandbostel kam er in ein Arbeitskommando auf einem Bauernhof. Anatolij und die Tochter des Landwirtes, für den er arbeiten musste, führten eine geheime Liebesbeziehung. Ohne zu wissen, dass er Vater wurde, starb der junge Russe im Lazarett.

Lange stehen Steinmeier, Büdenbender und Meyer vor seinem Kreuz. Der Bundespräsident lässt sich Zeit, hört sich die Familiengeschichte an, fragt intensiv nach, wie so oft an diesem Tag im Kontakt mit Zeitzeugen sowie Ehren- und Hauptamtlichen der Gedenkstätte. Sandbostel sei „ein notwendiger Ort“, sagt er. Es sei wichtig, sich die dunklen Seiten der Geschichte in Erinnerung zu rufen, auch um junge Menschen dafür zu sensibilisieren, „dass das, was hier geschehen ist, nie wieder passiert“.

Gerade den sowjetischen Kriegsgefangenen wurden unter Hitler elementare Menschenrechte verweigert. Das bekam auch Anatolij zu spüren, denn die Nazis hatten im Lager eine perfide Hierarchie eingerichtet. Amerikaner und Briten standen an der Spitze, ganz unten waren Polen, Italiener und schließlich die sowjetischen Gefangenen. Während die einen nach den Genfer Konventionen behandelt wurden, malen durften und Jazz spielten, verweigerte die Lagerleitung den anderen fast alles. So bekamen die Rotarmisten ein „Russenbrot“ aus Laub, Sägespänen und wenig Mehl.

Lange wusste Gerd A. Meyer nichts vom Martyrium seines Vaters. Erst nach jahrelangen Recherchen habe er seine Identität klären können, erzählt der heute 75-Jährige. Mittlerweile habe er Kontakt zu seiner Familie in Russland. Dort habe er seine Wurzeln gefunden: „Ich bin nicht nur angekommen, sondern wurde auch angenommen.“ Zur Erinnerung an seinen Vater trägt Gerd Meyer ein „A.“ in seinem Namen, das für Anatoljewitsch, Sohn des Anatolij, steht.

Der Besuch in Sandbostel ist für Bundespräsident Steinmeier der Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen zum Jahrestag des Überfalls am 22. Juni. Am Freitag (18. Juni) will er im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst mit einer Rede die Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ eröffnen. Das soll seine zentrale Gedenkrede aus Anlass des Jahrestages werden. Das heutige Museum ist der historische Ort, an dem am 8. Mai 1945 die Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet wurde. Am Jahrestag des Überfalls selbst will Steinmeier einen Kranz am Sowjetischen Ehrenmal Schönholzer Heide in Berlin-Pankow niederlegen.

„Aufklären, nicht wegschauen, auch die dunklen Seiten der deutschen Geschichte in Erinnerung rufen“, darauf komme es an, betont er in Sandbostel. Und verweist auf die Historie der Gedenkstätte, gegen die es lange Zeit Widerstände gab. Über Jahrzehnte war sie am Ort des Grauens politisch nicht mehrheitsfähig, die Geschichte wurde lange verdrängt. So entstand auf dem ehemals 35 Hektar großen Lagergelände unter dem euphemistischen Titel „Immenhain“ ein Gewerbegebiet, zu dem noch heute viele ehemalige Baracken gehören. Es habe „einen Zustand des Vergessens gegeben“, mahnt Steinmeier.

Bürgerinitiativen lehnten sich zwar immer wieder dagegen auf. Doch den Durchbruch brachte erst 2004 die Gründung der „Stiftung Lager Sandbostel“. 2007 konnte eine Gedenkstätte provisorisch ihre Arbeit aufnehmen, 2013 wurde sie im Beisein mehrerer Überlebender und zahlreicher Angehöriger offiziell eröffnet. Sie sei mittlerweile ein wichtiger Ort engagierter Friedensarbeit, bekräftigt Gerd A. Meyer. Ein Ort, an dem man auch lernen könne, was passiere, wenn man andere Menschen ausgrenze - „hier und anderswo“.

Hintergrund:

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ ein beispielloser Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug. Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 27 Millionen Sowjetbürger getötet. Damit hatte die Sowjetunion die meisten Opfer des Zweiten Weltkrieges zu beklagen.

Es handelte sich überwiegend um Zivilisten, die bei Kriegshandlungen, durch Terror, Massenerschießungen und Aushungern starben. Die sowjetischen Kriegsgefangenen sind nach den Juden die größte Opfergruppe: Mehr als drei Millionen Rotarmisten starben in deutscher Gefangenschaft.

Am 22. Juni 1941 verbreitete Propagandaminister Joseph Goebbels um 5.30 Uhr über alle Rundfunksender Hitlers Botschaft: Es sei „die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten“. 153 deutsche Divisionen mit beinahe 3,3 Millionen Soldaten attackierten auf breiter Front zwischen Ostsee und Karpaten ohne Kriegserklärung ein schier unendliches Land: Der Vielvölkerstaat erstreckte sich über 21,8 Millionen Quadratkilometer, ein Siebtel der Erde.

Hitlers Vision: Ein „Großgermanisches Reich Deutscher Nation“ von der Atlantikküste bis an die Ausläufer des Urals. Es war ein Vernichtungskrieg, der spätestens seit Juli 1940 geplant worden war. Am 18. Dezember 1940 unterzeichnete Hitler die neunseitige Weisung Nr. 21 „Fall Barbarossa“ und damit den Befehl für die Wehrmacht, sich auf den Angriff auf die Sowjetunion vorzubereiten. Darin hieß es, Sowjetrussland sei „in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“.

Große Kesselschlachten mit schnellen Panzervorstößen sorgten zunächst für militärische Erfolge der Nazis. Doch das Blatt wendete sich 1942. Die Sowjetunion startete im „Großen Vaterländischen Krieg“ massive Gegenoffensiven - zu einer Zeit, in der die Wehrmacht bereits eine Million Tote, Vermisste oder Verwundete zählte. Das Scheitern der Operation „Barbarossa“ vor Moskau sowie die spätere Niederlage der deutschen 6. Armee in Stalingrad mit der Kapitulation ihrer wenigen verbliebenen Soldaten Ende Januar/Anfang Februar 1943 gelten als Wendepunkte des Zweiten Weltkrieges.