Angst-Forscher Biess: Vor allem Ältere fürchten Atomkrieg

Frankfurt a.M, Los Angeles (epd). Nach Beobachtung des Historikers Frank Biess sind vor allem ältere Menschen von der Angst vor einem Atomkrieg zwischen der Nato und Russland betroffen. Diese Angst knüpfe an Gefühle aus der Zeit des Kalten Kriegs an, die nur die Älteren erlebt hätten, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der 56-Jährige lehrt als Professor an der University of California in San Diego. Er ist Autor des Buchs „Republik der Angst“.

epd: Wie unterscheidet sich die Atomangst heute zu der in den 80er Jahren?

Frank Biess: Für die Älteren ist das ein vertrautes Gefühl. Vor allem jüngere Menschen in Deutschland befürworten auch aus einer moralischen Empörung über den Angriffskrieg die Unterstützung für die Ukraine. Sie haben die Eskalationsgefahr nicht so gesehen. Aber für die älteren Menschen ist es die Rückkehr eines Szenarios, mit dem sie groß geworden sind - die Kalte-Kriegs-Angst und die Angst vor dem Atomkrieg. Die jetzige Angst ist eine Retro-Angst.

Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine sehr konkrete Quelle nennt. Der Armageddon-Ausspruch von US-Präsident Biden zeigt auch, dass sich Putins Drohungen eben nicht als Panikmache abtun lassen. Diejenigen, die die Friedensbewegung und die 80er Jahre miterlebt haben, sehen die Situation heute vielleicht mehr aus dieser Perspektive als die jüngeren Menschen.

epd: Inwiefern ist diese Retro-Angst prägend?

Biess: Damals wusste jeder, wie lange eine russische Mittelstreckenrakete nach Berlin brauchen würde. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde auch ein Stück weit vergessen, dass auf beiden Seiten noch Atomwaffen existieren. Die Blockkonfrontation schien überwunden. Mit dem islamistischen Terrorismus gab es nach 9/11 neue Quellen für Ängste. Mit der Aggression Russlands kommt die Kalte-Kriegs-Angst wieder in den Blick.

Olaf Scholz, dem seine Zurückhaltung immer vorgeworfen wurde, ist auch mit diesen Erfahrungen sozialisiert worden. Er war beispielsweise auch unter den Demonstranten bei der Bonner Hofgarten-Demo 1981 - mit langen Locken.

epd: Inwiefern hat sich die Emotionskultur verändert?

Biess: In den 80er Jahren hatte sich die Bewertung von Angst verändert. Zuvor gab es eine therapeutische Wende, in der es wichtig wurde, Gefühle zu artikulieren und sie nicht zu verdrängen. Das ging in die Friedensbewegung ein, weil es da opportun war, diese Ängste fast schon performativ zur Schau zu stellen. Diese Emotionskultur wirkt bis heute nach. Die Emotionalisierung der Politik sieht man nach wie vor. Das hat auch negative Konsequenzen, weil auch andere Ängste artikuliert werden können, die Angst vor dem Fremden etwa.

epd: Welchen Nutzen haben kollektive Ängste?

Biess: Das lässt sich pauschal nicht sagen, weil es vom Zusammenhang abhängt. In der Geschichte der Bundesrepublik sieht man, dass die Angst vor einer Wiederholung, die Angst vor der Rückkehr einer katastrophalen Vergangenheit, sensibilisiert hat vor Gefahren für die Demokratie. Angst schärft die Aufmerksamkeit. Es ist ein Mittel, um die Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema zu mobilisieren. Das war ein Anliegen der Friedensbewegung und ist jetzt ein Anliegen der Klimaaktivisten.

Die problematischere Seite zeigt sich, wenn Sündenböcke gesucht werden, wenn gezielt Gruppen oder Personen für eine abstrakte Gefahr verantwortlich gemacht werden. Dann kann Angst umschlagen in Hass oder Gewalt.

epd: Kann Angst eine Kommunikationsstrategie sein, um politische Ziele zu erreichen?

Biess: Ja, es kann eine Kommunikationsstrategie sein. Angst wurde auch von der Friedensbewegung in den 80er Jahren als Mittel eingesetzt. Das hat den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) auch zur Verzweiflung getrieben, weil er mit der Kriegsgeneration groß geworden war, wo Ängste noch nicht gezeigt werden durften. Er sah sich dann plötzlich konfrontiert mit diesen langhaarigen Friedensaktivisten, die immer über ihre Gefühle und ihre Ängste gesprochen haben. Die ganze Abschreckungsdynamik im Kalten Krieg hat mit diesen Ängsten operiert. Auch in der heutigen Situation wird Unsicherheit kultiviert.

epd: Welche langfristige gesellschaftliche Wirkung haben Angstdiskurse?

Biess: Extreme Erregungszustände lassen sich in der Regel nicht sehr lange aufrechterhalten. Irgendwann schwellen sie ab, oder es tritt eine Art Gewöhnungseffekt ein. Man kann das auch an der Friedensbewegung sehen: Nach dem der Nato-Doppelbeschluss angenommen wurde, zerfiel die Bewegung und verschwand innerhalb von zwei bis drei Jahren, obwohl es die bislang größte Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik war.

Andererseits kann es eine lang anhaltende Wirkung geben. Gerade in der Bundesrepublik nach 45 waren die Erfahrungen der Vergangenheit immer wieder Quelle neuer Ängste. Zunächst die Angst vor einem neuen Krieg, die Angst vor der Wiederkehr des Faschismus, die Angst vor dem „nuklearen Holocaust“. Heute ist die NS-Erfahrung nicht mehr so präsent wie noch in der alten Bundesrepublik. Sie wurde abgelöst durch die Erfahrung des Kalten Kriegs.

Die Erfolgserzählung der Bundesrepublik gründete sich lange auf das Ausbleiben der Katastrophe. Denn die meisten Ängste realisierten sich ja nicht, es kam nie so schlimm wie befürchtet. Von daher könnte es ein Hoffnungsschimmer sein, wenn es der Gesellschaft gelingt, gut durch diesen Winter zu kommen.