Amcha: Krieg gegen Israel führt zu neuer Traumatisierung

Berlin (epd). Die Organisation Amcha hat mehr Hilfe für Holocaust-Überlebende in Israel gefordert. Das am 7. Oktober begonnene pogromartige Massaker der Hamas und des Islamischen Dschihad in Israel werde insbesondere von Überlebenden der Schoah und ihren Familien als existenzielle Bedrohung erlebt, sagte der Vorstandsvorsitzende vom Amcha Deutschland, Lukas Welz, dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin: „Der Terror und die Gewalt in ihrer bestialischen Dimension hat bei vielen Menschen in Israel Sekundärtraumatisierungen ausgelöst.“

Die auf Vernichtung basierende antisemitische Ideologie, die Brutalität und Grausamkeit hätten traumatisierende Erinnerungen an die Schoah geweckt, sagte Welz. Der psychosoziale Unterstützungsbedarf bei Überlebenden, ihren Nachkommen und der gesamten israelischen Bevölkerung sei massiv angestiegen.

Die Organisation Amcha wurde 1987 von Holocaust-Überlebenden in Israel gegründet. Sie unterstützt NS-Überlebende und ihre Angehörigen mit psychosozialen Hilfen. Der Begriff „Amcha“ kommt den Angaben zufolge aus dem Hebräischen und bedeutet sinngemäß: „Du bist von uns.“

Welz betonte, viele Menschen würden erst in den nächsten Wochen die Kraft finden, psychosoziale Unterstützung zu suchen, „wenn Klarheit über die aktuelle Situation gewonnen und ein Mindestmaß an Stabilität gefunden wurde“. Andere benötigten akut Unterstützung.

„Ängste, Traumafolgen und depressives Verhalten nehmen wahrnehmbar zu“, sagte Welz. Auch der aggressive Antisemitismus in Deutschland stelle für Überlebende eine Bedrohung dar und wecke weitere Ängste und traumatisierende Erfahrungen. Aber auch Solidaritätsbekundungen und Trauer für das Leid durch die pogromähnliche Gewalt würden wahrgenommen. Die Erfahrungen mit Hilfen seien jedoch ambivalent.

„Wir erleben einerseits, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Schoah einen festen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein hat“, sagte Welz: „Wir müssen aber gleichzeitig feststellen, dass die humanitäre Unterstützung für Überlebende und ihre Nachkommen, die mittelbar von den Menschheitsverbrechen der Schoah betroffen sind, vonseiten der deutschen Politik auch 78 Jahre nach der Befreiung keine Selbstverständlichkeit ist.“

Zum Teil seien „viele Verhandlungen und Überzeugungsarbeit“ nötig, bis politische Verantwortung übernommen werde, sagte Welz: „Wir erwarten, dass diejenigen, deren Leben unmittelbar und mittelbar durch die deutschen Verbrechen der Schoah ihr Leben lang belastet sind, tatsächlich ohne Wenn und Aber die Unterstützung erfahren, die in Gedenkreden als Teil der deutschen Verantwortung und Staatsräson gepredigt wird.“

Das Interview im Wortlaut:

epd: Wie geht es den Menschen, mit denen Sie in Israel arbeiten, die Sie dort unterstützen?

Lukas Welz: Das pogromartige Massaker der Hamas und des Islamischen Dschihad wird von der israelischen Bevölkerung und insbesondere Überlebenden der Schoah und ihren Familien als existenzielle Bedrohung erlebt. Der Terror und die Gewalt in ihrer bestialischen Dimension hat bei vielen Menschen in Israel Sekundärtraumatisierungen ausgelöst. Die auf Vernichtung basierende antisemitische Ideologie, die Brutalität und Grausamkeit haben traumatisierende Erinnerungen an die Schoah geweckt. Menschen, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden, Qual, Folter und Vergewaltigungen oder das Überleben durch Totstellen sind Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden weltweit aus Erzählungen oder aus eigenem Erleben aus der Zeit der Verfolgung während des Nationalsozialismus kennen. Insofern sind die Gewalterfahrungen der letzten Wochen eine massive psychologische Belastung.

Hinzu kommt, dass Nachkommen von Überlebenden der Schoah nun zum Reservedienst der israelischen Armee einberufen wurden und manche Überlebende selbst von Evakuierungen im Süden des Landes betroffen sind. In Städten wie Sderot oder Aschkelon haben sich Überlebende der Schoah tagelang in ihren Wohnungen verbarrikadiert.

epd: Welche Folgen hat der Hamas-Angriff für die Projekte und das Engagement von Amcha in Israel?

Welz: Die Amcha-Zentren im Süden Israels sind besonders von der massiven Gewalt betroffen. Überlebende der Schoah, Familienangehörige, aber auch Mitarbeitende der Zentren wurden direkt und indirekt Zeuginnen und Zeugen. Die Amcha-Zentren im Süden und im Großraum Tel Aviv sind derzeit besonders von den Raketenangriffen betroffen. Überlebende der Schoah, die Amcha in Sderot, Aschkelon und Aschdod betreut, wurden zum Teil evakuiert. Einige der Zentren mussten in den betroffenen Regionen ihre Arbeit einschränken. Über die psychosoziale Betreuung hinaus versucht Amcha die Überlebenden mit lebensnotwendigen Dingen zu versorgen und Kontakt zu ihnen zu halten.

epd: Worauf konzentriert sich Ihre Arbeit beziehungsweise die Arbeit Ihrer Partner derzeit?

Welz: Amcha unterstützt seit 1987 in Israel jedes Jahr tausende Überlebende der Schoah und ihre Familien in der Bearbeitung ihrer schweren Traumata in Folge von Verfolgung, Folter und Genozid. In Form von Kriseninterventionen stellt Amcha diese breite Expertise jetzt allen Betroffenen zur Verfügung. Der psychosoziale Unterstützungsbedarf bei Überlebenden, ihren Nachkommen und der gesamten israelischen Bevölkerung ist massiv angestiegen. Viele Menschen werden erst in den nächsten Wochen die Kraft finden, psychosoziale Unterstützung zu suchen, wenn Klarheit über die aktuelle Situation gewonnen und ein Mindestmaß an Stabilität gefunden wurde. Andere benötigen akut Unterstützung. Für alle Szenarien ist Amcha jetzt vorbereitet, auch, weil wir an Erfahrungen aus anderen Kriegs- und Krisensituationen anknüpfen können. Gleichwohl übersteigen die Gewalterfahrungen dieses Massakers, das mehr Menschenleben forderte, als die zweite Intifada, alles bisher erlebte.

epd: Wo haben Sie aktuell vor Ort eigene Eindrücke gewonnen - und welche?

Welz: Ich stehe im Austausch mit Überlebenden der Schoah, die von Amcha betreut werden. Ängste, Traumafolgen und depressives Verhalten nehmen wahrnehmbar zu. Das Gefühl, in Israel ein sicheres Zuhause für sich und die Familie gefunden zu haben, ist für sie von zentraler Bedeutung. Angesichts solcher Erfahrungen von Gewalt und Sorge um nahe Angehörige schwindet diese Sicherheit. Ein Leben in Sicherheit und Frieden, das auch in Israel stets Bedrohungen von außen ausgesetzt war, rückt in Tagen wie diesen in weite Ferne. In einigen Wochen werde ich selbst nach Israel reisen, um eigene Eindrücke zu gewinnen und mit Überlebenden und ihren Nachkommen zu sprechen.

epd: Wie viele Schoah-Überlebende leben nach Ihrer Kenntnis heute noch in Israel?

Welz: Nach Angaben der israelischen Statistikbehörde lebten zum Stand April 2023 noch 147.200 Überlebende der Schoah in Israel. Dazu zählen alle diejenigen Menschen, die im Einflussbereich des Nationalsozialismus lebten, manche von ihnen als Kinder und Babys. 2022 unterstützte Amcha circa 6.000 Überlebende.

epd: Wie kann diesen Überlebenden derzeit am besten geholfen werden, auch von Deutschland aus?

Welz: Insbesondere angesichts der menschenverachtenden Kundgebungen in Deutschland, die die Gewalt und die hohen Opferzahlen feiern, begrüßen wir das schnelle Handeln der Sicherheitsbehörden zum Schutz jüdischer und israelischer Einrichtungen. Gleichzeitig sind wir in großer Sorge angesichts des aggressiven Antisemitismus, dem in Folge der jetzigen Gewalt in Israel bereits jetzt Jüdinnen, Juden und Israelis in Deutschland ausgesetzt sind und der zu weiteren Anschlägen, auch auf Synagogen, führte. Dass auf deutschen Straßen „Palästina von deutscher Schuld befreien“ skandiert wird und damit klassische Schuldabwehr für die Verbrechen der Schoah bedient wird, sind Signale, die für Überlebende eine Bedrohung darstellen und weitere Ängste und traumatisierende Erfahrungen wecken. Aber auch Solidaritätsbekundungen und Trauer für das Leid, das durch die pogromähnliche Gewalt entstanden ist, nehmen Überlebende und ihre Familien wahr. Von Deutschland aus sammeln wir Spenden, um Hilfe für die Überlebenden und ihre Familien möglich zu machen.

epd: Was erwarten und fordern Sie vonseiten der Politik?

Welz: Unser über 35-jähriges Engagement verfolgte immer das Ziel, die Überlebenden und ihre gegenwärtigen Bedürfnisse nicht zu vergessen. Wir erleben einerseits, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Schoah einen festen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein hat. Wir müssen aber gleichzeitig feststellen, dass die humanitäre Unterstützung für Überlebende und ihre Nachkommen, die mittelbar von den Menschheitsverbrechen der Schoah betroffen sind, vonseiten der deutschen Politik auch 78 Jahre nach der Befreiung keine Selbstverständlichkeit ist. Es braucht zum Teil viele Verhandlungen und Überzeugungsarbeit, bis politische Verantwortung übernommen wird. Wir erwarten, dass diejenigen, deren Leben unmittelbar und mittelbar durch die deutschen Verbrechen der Schoah ihr Leben lang belastet sind, tatsächlich ohne Wenn und Aber die Unterstützung erfahren, die in Gedenkreden als Teil der deutschen Verantwortung und Staatsräson gepredigt wird.