Als das Gewissen noch geprüft wurde

Bremen/Hamburg (epd). Ein schlanker junger Mann steht vor einer Kaserne. Den rechten Arm streckt er nach oben, die Hand ist in der Tradition der Hippie-Kultur zum Peace-Zeichen geformt. Der Blick scheint fest nach vorne gerichtet - und verrät doch Unsicherheit. Die Geste von Hermann Brinkmann 1973 vor der Evenburg-Kaserne im ostfriesischen Leer mutet an wie ein Abschied. Und irgendwie ist sie es auch. Wenig später lebt der 19-jährige Kriegsdienstverweigerer nicht mehr.

Brinkmann begeht Suizid, nachdem seine Kriegsdienstverweigerung (KDV) aus Gewissensgründen abgewiesen wird. "Tod durch Starkstrom", schreibt seine Familie aus Lindern im Landkreis Cloppenburg in einer Todesanzeige, die in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erscheint. Und auch: "19 Jahre hat er unser Leben bereichert. Mit großer Sensibilität ausgestattet sah er das Unrecht und nannte es beim Namen, spürte er die Hilfsbedürftigkeit, half und war immer seinem Gewissen verpflichtet." Darunter der Hinweis "Depression durch den Zwang zum Waffendienst". 

Der Suizid des überzeugten Pazifisten machte in den 1970er Jahren bundesweit Schlagzeilen und löste eine Debatte über die Rechtmäßigkeit der dreistufigen Gewissensprüfung von Kriegsdienstverweigerern aus. Seine Nichte Hannah Brinkmann, 1990 geboren, hat die Geschichte ihres Onkels nach mehrjähriger Recherche in einer Graphic Novel verarbeitet. "Es fing alles mit der Todesanzeige an, die ich im Wohnzimmerschrank meiner verstorbenen Großmutter fand", berichtet die Hamburger Comickünstlerin in einer digitalen Buchvorstellung und Lesung des Bremer Sozialen Friedensdienstes.

"Gegen mein Gewissen" lautet der Titel der grafischen Erzählung, die Hannah Brinkmann akribisch in Archiven, Zeitungsartikeln und in der Familiengeschichte recherchiert hat, denn ihren Onkel hat sie persönlich ja gar nicht gekannt. Bei der Bundeswehr jedoch habe sie mit ihren Anfragen keinen Erfolg gehabt. "Da gingen sofort alle roten Lampen an. In die Kaserne in Leer reinzukommen, das kam nicht infrage", blickt Hannah Brinkmann zurück.

Die 1956 neu gegründete Bundeswehr verpflichtete Generationen junger Männer zum Dienst an der Waffe. Allerdings sah das Grundgesetz vor, dass man aufgrund von Gewissensnöten den Wehrdienst verweigern konnte. "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz", heißt es in Artikel 4 Absatz 3. 

Comiczeichnerin Brinkmann illustriert in teils tranceartig-bedrückenden Bildern, unter welchem Druck diese Gewissennöte bewiesen werden mussten. Viele Antragsteller scheiterten vor einem Prüfungsausschuss, der in den Kreiswehrersatzämtern der Bundeswehr zusammenkam.

Waren es bei Einführung der Wehrpflicht noch 262 Kriegsdienstverweigerer, stieg die Zahl der Anträge im Jahr der Entscheidung von Hermann Brinkmann 1973 bereits auf knapp 32.900. 2010, kurz vor Aufhebung der Wehrpflicht, waren es 130.000, wie aus einer Dokumentation der mittlerweile aufgelösten Bremer Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen hervorgeht. 

"Hunderttausendfach wurden in Prüfungsverfahren Kriegsdienstverweigerer zu Unrecht abgelehnt, Zehntausende wurden gegen ihr Gewissen zum Waffendienst gezwungen", bilanziert Peter Tobiassen, langjähriger Geschäftsführer der Zentralstelle. "Tausende gingen daraufhin ins Exil nach Westberlin, bis 1989 ohne Wehrpflicht, oder ins Ausland. Einige - wie Hermann Brinkmann - verzweifelten an den Fehlentscheidungen der Wehrbehörden so sehr, dass sie nicht mehr weiterleben konnten."

Wie inquisitorisch das Gewissen geprüft wurde, recherchierte Hannah Brinkmann anhand des "KDV-Fragenkatalogs", den es zur Vorbereitung auf das Verfahren bei Unterstützer-Organisationen von Kriegsdienstverweigerern gab. Darin finden sich Fragen wie "Was machen Sie, wenn ein Russe Ihre Mutter bedroht, und Sie haben eine Waffe dabei?" Oder das Nachhaken des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses in der Graphic Novel: "Sagen Sie, Herr Brinkmann, sind Sie Autofahrer? Auf den Straßen der Bundesrepublik verunglücken jährlich beinahe eine halbe Million Menschen. Dürfen Sie als Pazifist da überhaupt Auto fahren?"

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht Mitte 2011 endete vorläufig die unwürdige Überprüfung derjenigen, die gegen ihr Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe einberufen werden sollten. "Seit diesem Datum brauchen jährlich viele Zehntausende junge Männer nicht mehr mit der Angst zu leben, gegen ihren Willen eingezogen zu werden", betont Wolfgang Buff, einer der Sprecher der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für KDV und Frieden (EAK).

Und doch gibt es in Deutschland immer noch Kriegsdienstverweigerer, die ihre Gewissensnöte darstellen müssen, meist Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten, auch Reservisten. Sie wolle mit ihrer Arbeit Bewusstsein schaffen, damit klarwerde, dass man für seine Rechte eintreten müsse, meint Hannah Brinkmann. Sie habe nach Veröffentlichung der Graphic Novel viele Zuschriften von Männern bekommen, die ihre eigene Verweigerungsgeschichte erzählten: "Das berührt mich wahnsinnig. Ich glaube, dass es wichtig ist, Geschichte neu zu erzählen und zu reflektieren."

Hintergrund

Millionen Deutsche waren in den Zeiten der Einberufung zur Allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland Soldaten in der Bundeswehr ­ viele davon nicht freiwillig. Am 25. Juli 1956 trat das Wehrpflichtgesetz in Kraft, das jeden deutschen Mann zum Dienst an der Waffe oder bei Verweigerung aus Gewissensgründen zu einem zivilen Ersatzdienst verpflichtete. 

Der Parlamentarische Rat hatte lange zuvor einen Satz in das 1949 verabschiedete Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen, auf den sich bis heute das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gründet. Dort heißt es in Artikel 4 Absatz 3: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz."

Wer einberufen wurde, musste seine Gewissensentscheidung gegen einen Kriegsdienst mit der Waffe begründen, viele Jahre vor Prüfungsausschüssen in den Kreiswehrersatzämtern der Bundeswehr. Später genügte im ersten Anlauf die schriftliche Form. Zehn Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 gehört diese Praxis nun vorläufig der Vergangenheit an. 

Die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung ist dementsprechend, und solange die Einberufung zur Wehrpflicht ausgesetzt ist, zahlenmäßig gering. Doch es gibt nach wie vor Menschen, die von diesem Menschenrecht auch in Deutschland Gebrauch machen. Meist sind es Reservisten sowie Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten. Der Antrag muss schriftlich beim zuständigen "Karrierecenter" der Bundeswehr gestellt werden, das Bundesamt für Familien und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) entscheidet darüber.

Zwischen Anfang 2015 und dem 31. Mai 2020 sind nach einer Kleinen Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion 1.172 Anträge eingegangen, davon wurden 523 ohne Widerspruch anerkannt. Für viele Soldatinnen und Soldaten sei es in der Praxis schwer, ihr Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung wahrzunehmen, weil dies regelmäßig mit hohen Rückerstattungsforderungen von Ausbildungskosten seitens der Bundeswehr verbunden sei, kommentiert die Linken-Fraktion die Antwort auf ihre Anfrage. Dies stelle die Betroffenen häufig vor enorme finanzielle Probleme.